Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
P ROLOG
    B lue Sargent wusste mittlerweile schon gar nicht mehr, wie oft ihr gesagt worden war, dass sie ihrer wahren Liebe den Tod bringen würde.
    Ihre Familie verdiente ihr Geld mit Weissagungen. Diese waren jedoch meist nicht allzu konkret. Beispielsweise: »Ihnen wird heute etwas Schreckliches zustoßen. Möglicherweise spielt dabei die Zahl sechs eine Rolle.« Oder: »Sie werden zu Geld kommen. Empfangen Sie es mit offenen Händen.« Oder: »Eine wichtige Entscheidung liegt vor Ihnen und sie wird sich nicht von alleine treffen.«
    Die Menschen, die zu dem kleinen, hellblau gestrichenen Haus im Fox Way kamen, störten sich nicht an der ungenauen Natur dieser Prophezeiungen. Im Gegenteil, so wurde das Ganze zu einem Spiel, zur Herausforderung, den exakten Moment zu erkennen, in dem das Schicksal sich erfüllte. Wenn also zwei Stunden nach dem Wahrsagertermin eines Kunden ein Wagen mit sechs Insassen in dessen Auto krachte, so konnte dieser gleichermaßen wissend und befreit nicken. Wenn der Nachbar einer anderen Kundin anbot, ihr den alten Rasenmäher abzukaufen, dann fiel ihr das Versprechen, dass sie zu Geld kommen würde, wieder ein und sie hatte das Gefühl, der Handel sei genauso vorhergesagt worden. Und wenn ein dritter Kunde von seiner Frau ermahnt wurde: »Das ist eine wichtige Entscheidung«, dann dachte er daran, dass er dieselben Worte schon von Maura Sargent über einem Tisch voller Tarotkarten gehört hatte, und ging die Sache umso energischer an.
    Doch ihre ungenaue Natur beraubte die Prophezeiungen auch eines Teils ihrer Macht. Traten sie ein, so ließ sich das ebenso als purer Zufall abtun. Sie waren für nicht viel mehr als ein Schmunzeln auf dem Supermarkt-Parkplatz gut, wenn einem wie versprochen ein alter Freund über den Weg lief. Einen Schauder, wenn auf der Stromrechnung die Zahl siebzehn auftauchte. Die Erkenntnis, dass sich, selbst wenn man seine Zukunft kannte, nichts am Leben in der Gegenwart änderte. Sie spiegelten die Wahrheit wider, aber nun einmal nicht die ganze Wahrheit.
    »Eins müssen Sie wissen«, erklärte Maura neuen Kunden stets, »was ich Ihnen nun erzähle, wird zwar korrekt sein, aber nicht konkret.«
    So war es einfach leichter.
    Blue jedoch hatte diesen Satz nie zu hören bekommen. Immer wieder war ihre Hand ergriffen, das Liniengeflecht darauf studiert worden, waren ihre Karten aus einem Satz mit schon ganz samtig weich abgegriffenen Rändern gezogen und auf dem flusigen Teppich im Wohnzimmer ausgebreitet worden. Man hatte ihr den Daumen auf das mystische unsichtbare dritte Auge gepresst, das angeblich jeder zwischen den Brauen trug. Es waren Runen geworfen und Träume gedeutet, Teeblätter gelesen und Séancen durchgeführt worden.
    Doch alle Frauen hatten ihr stets dasselbe versichert, unverblümt und unerklärlich konkret. Jede war, auf ihre ganz eigene hellseherische Weise, zu folgendem Schluss gekommen: Wenn Blue ihre wahre Liebe küsste, dann würde dieser Junge sterben.
    Lange Zeit ließ die Warnung Blue keine Ruhe. Ja, konkret war sie schon, aber eben auf eine Art, wie es auch Märchen waren. Sie enthüllte nicht, wie der Junge sterben würde. Oder wie lange er nach dem Kuss noch zu leben hatte. Musste es ein Kuss auf die Lippen sein? Oder würde ein keusches, flüchtiges Küsschen auf den Handrücken sich als genauso tödlich erweisen?
    Bis zu ihrem elften Lebensjahr war Blue davon überzeugt, dass sie sich unbemerkt mit einer ansteckenden Krankheit infizieren würde. Und wenn ihre Lippen dann die ihres hypothetischen Seelenverwandten nur einmal streiften, würde auch er langsam seinem Ende entgegensiechen und selbst die moderne Medizin wäre machtlos. Mit dreizehn entschied Blue, dass es stattdessen Eifersucht sein würde, die ihn das Leben kostete – bei ihrem ersten Kuss würde plötzlich ein Exfreund auftauchen, verrückt vor Liebeskummer, in der Hand eine Pistole.
    Mit fünfzehn kam Blue zu dem Schluss, dass Tarot nichts als ein albernes Kartenspiel war und die Träume ihrer Mutter und der anderen Wahrsagerinnen eher durch hochprozentige Cocktails als überirdischen Scharfblick befeuert wurden und sie daher der Prophezeiung keinen besonderen Glauben schenken musste.
    Doch im Grunde wusste sie es besser. Was im Fox Way vorausgesagt wurde, mochte vielleicht nicht sonderlich konkret sein, aber es entsprach unbestritten der Wahrheit. Ihre Mutter hatte im Traum Blues gebrochenes Handgelenk an ihrem ersten Schultag vorhergesehen. Ihre Tante Jimi hatte Mauras
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher