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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
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des Grauens. Sie versuchte, sich mit dem zu beruhigen, was ihr seit jeher eingebläut worden war: Geister zogen ihre Energie aus ihrer Umgebung. Alles, was sie spürte, war also, wie er sie benutzte, um sichtbar bleiben zu können.
    Und doch fühlte es sich immer noch grauenerregend an.
    Sie bat: »Verrätst du mir deinen Namen?«
    Er wandte sich ihr zu und sie sah mit Entsetzen, dass er einen Aglionby-Pullover trug.
    »Gansey«, sagte er. Seine Stimme war leise, aber kein Flüstern. Es war eine echte Stimme, die aus so großer Ferne zu kommen schien, dass sie kaum hörbar war.
    Blue konnte den Blick nicht von seinem zerzausten Haar wenden, von der Andeutung durchdringender Augen, dem Raben auf seinem Pullover. Seine Schultern waren triefnass, wie sie jetzt erkannte, und auch der Rest seiner Kleider glänzte feucht von einem Gewitter, das noch nicht stattgefunden hatte. So nah bei ihm konnte sie einen minzeartigen Duft wahrnehmen, von dem sie nicht wusste, ob er speziell zu ihm gehörte oder zu Geistern im Allgemeinen.
    Er wirkte so real. Als es so weit war, als sie ihn endlich sehen konnte, kam es ihr gar nicht vor wie Magie. Es war, als starrte sie in ein offenes Grab und das Grab erwiderte ihren Blick.
    »Mehr nicht?«, flüsterte sie.
    Gansey schloss die Augen. »Mehr ist da nicht.«
    Er fiel auf die Knie – eine lautlose Bewegung bei einem Jungen ohne wirklichen Körper. Mit einer Hand stützte er sich auf dem Boden ab und grub die gespreizten Finger in den Schlamm. Blue konnte die Schwärze der Kirche deutlicher erkennen als die Krümmung seiner Schulter.
    »Neeve«, sagte Blue. »Neeve, er … stirbt.«
    Neeve hatte sich erhoben und stand jetzt direkt hinter ihr. Sie antwortete: »Noch nicht.«
    Gansey war nun fast nicht mehr zu sehen, er verschmolz mit der Kirche oder die Kirche mit ihm.
    Blues Stimme klang belegter, als ihr lieb war. »Warum … warum kann ich ihn sehen?«
    Neeve warf einen Blick über die Schulter – entweder weil noch weitere Geister kamen oder weil das Gegenteil der Fall war, Blue konnte es nicht sagen. Als sie sich wieder umdrehte, war Gansey vollkommen verschwunden. Im nächsten Moment spürte Blue, wie die Wärme in ihre Haut zurückkehrte, doch irgendwo hinter ihren Lungen blieb etwas Eisiges zurück. Ein gefährlicher, trauriger Sog schien sich in ihrem Inneren zu bilden: Kummer oder Bedauern.
    »Es gibt nur zwei Gründe, warum eine Nicht-Sehende am Vorabend des Markustags einen Geist erblickt, Blue. Entweder du bist seine wahre Liebe«, sagte Neeve, »oder du hast ihn getötet.«

2
    I ch bin’s«, meldete sich Gansey.
    Er wandte sich zu seinem Auto um. Die leuchtend orangefarbene Motorhaube des Camaros war hochgeklappt, mehr als Zeichen seiner Kapitulation als aus irgendwelchen praktischen Gründen. Adam mit seinem Händchen für Autos hätte vielleicht zu sagen vermocht, was diesmal mit dem Wagen nicht stimmte, Gansey jedoch hatte nicht die leiseste Ahnung. Er hatte es gerade noch geschafft, den Wagen von der Fahrbahn zu lenken, und jetzt stand der Camaro mit seinen breiten Reifen leicht schräg auf den verstreuten Grasbüscheln am Rand des Highways. Ein Sattelzug brauste vorbei, ohne auch nur abzubremsen, und brachte den Wagen zum Schwanken.
    Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Mitbewohner Ronan Lynch: »Du hast Geschichte verpasst. Dachte schon, du liegst irgendwo tot im Graben.«
    Gansey drehte sein Handgelenk herum und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte wesentlich mehr verpasst als nur den Geschichtsunterricht. Es war elf Uhr und schon jetzt erschien ihm die Kühle der vergangenen Nacht wie ein Traum. Eine Mücke klebte im Schweiß neben dem Armband der Uhr fest; er schnippte sie weg. Als er noch jünger war, war Gansey ein einziges Mal campen gewesen. Dabei hatte ein Zelt eine Rolle gespielt. Und Schlafsäcke. Und ganz in der Nähe war ein Range Rover geparkt gewesen, für den Fall, dass sein Vater und er die Lust verloren. Es war eine völlig andere Erfahrung gewesen als die Sache letzte Nacht.
    Er fragte: »Hast du für mich mitgeschrieben?«
    »Nein«, antwortete Ronan. »Ich dachte ja, du liegst irgendwo tot im Graben.«
    Gansey blies sich etwas Staub von den Lippen und schob das Handy an seinem Ohr zurecht. Er hätte für Ronan mitgeschrieben. »Pig ist liegen geblieben. Komm mich abholen, ja?«
    Ein Wagen fuhr vorbei und wurde langsamer; die Insassen starrten zu ihm heraus. Gansey sah ganz gut aus und auch der Camaro war alles andere als
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