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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
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Steuerrückzahlung bis auf zehn Dollar genau prophezeit. Und ihre Cousine Orla fing jedes Mal an, ihren Lieblingssong zu summen, ein paar Minuten bevor er im Radio lief.
    Niemand in ihrem Zuhause zweifelte je ernsthaft daran, dass es Blue vorbestimmt war, ihre wahre Liebe mit einem Kuss zu töten. Doch dieses drohende Unheil schwebte schon so lange über ihren Köpfen, dass es seinen Schrecken verloren hatte. Dass die sechsjährige Blue sich eines Tages verlieben würde, war eine so abwegige Vorstellung, dass sie schon fast an Einbildung grenzte.
    Und mit sechzehn hatte Blue sich sowieso vorgenommen, sich niemals zu verlieben, also schien das Problem fürs Erste gelöst.
    Aber ihre Entschlossenheit wurde auf die Probe gestellt, als Neeve, die Halbschwester ihrer Mutter, der Kleinstadt Henrietta einen Besuch abstattete. Neeve war damit berühmt geworden, dass sie in aller Öffentlichkeit praktizierte, was Blues Mutter im Stillen ausübte. Mauras Sitzungen fanden zu Hause in ihrem Wohnzimmer statt und ihr Kundenstamm beschränkte sich weitgehend auf die Einwohner Henriettas und des umliegenden Tals. Neeve hingegen war als Medium jeden Morgen um fünf Uhr im Fernsehen zu bewundern. Sie hatte eine Website, auf der sie dem Betrachter mit durchdringendem Blick von alten, weichgezeichneten Fotos entgegenstarrte. Außerdem prangte ihr Name auf den Umschlägen von gleich vier Büchern über das Übernatürliche.
    Blue hatte Neeve nie kennengelernt, darum gründete ihr Wissen über ihre Halbtante lediglich auf einer flüchtigen Suche im Internet und nicht auf persönlicher Erfahrung. Sie war nicht ganz sicher, warum Neeve überhaupt zu ihnen kam, doch sie ahnte, dass ihre bevorstehende Ankunft der Grund der unzähligen geflüsterten Gespräche zwischen Maura und ihren beiden besten Freundinnen Persephone und Calla war – die Art Gespräche, bei denen, sobald Blue den Raum betrat, nur noch schweigend Kaffee geschlürft und ungeduldig mit Kugelschreibern auf den Tisch getippt wurde. Dabei war diese nicht mal sonderlich interessiert an Neeves Besuch – wen kümmerte schon eine Frau mehr in einem Haus, das vor weiblichen Bewohnern bereits aus allen Nähten platzte?
    Eines Frühlingsabends, an dem die ohnehin schon langen Schatten der Berge noch länger schienen als gewöhnlich, stand Neeve schließlich vor der Tür. Als Blue ihr öffnete, hielt sie sie einen kurzen Moment lang für irgendeine fremde alte Frau, dann aber gewöhnten sich ihre Augen an die letzten purpurnen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen, und sie erkannte, dass Neeve nur unwesentlich älter war als ihre Mutter – die gar nicht so furchtbar alt war.
    Draußen, irgendwo in der Ferne, ertönte Hundegeheul. Blue kannte das Geräusch gut; im Herbst zog der Jagdklub von Aglionby fast jedes Wochenende mit Pferden und Hunden in den Wald. Blue wusste, was das hysterische Jaulen bedeutete, das sich in diesem Moment erhob: Die Meute hatte eine Spur aufgenommen.
    »Du bist Mauras Tochter«, stellte Neeve fest und fügte, bevor Blue antworten konnte, hinzu: »Dies ist das Jahr, in dem du dich verlieben wirst.«

1
    S chon bevor die Toten kamen, war es eiskalt auf dem Kirchhof.
    Jedes Jahr begaben Blue und ihre Mutter Maura sich an diesen Ort und immer war es kühl. Doch dieses Mal, ohne Maura, kam es Blue noch kälter vor als sonst.
    Es war der vierundzwanzigste April, der Vorabend des Markustags. Für die meisten Menschen kam und ging dieser Tag, ohne dass es ihnen bewusst war. Man bekam nicht schulfrei. Keine Geschenke wurden ausgetauscht. Kostüme oder Festlichkeiten gab es auch nicht. Keinen Markustag-Ausverkauf, keine Markustag-Karten in den Geschäften, keine besonderen Fernsehsendungen, die nur ein Mal im Jahr gezeigt wurden. Niemand strich sich den fünfundzwanzigsten April im Kalender an. Tatsächlich wussten die meisten Lebenden nicht einmal, dass es einen Tag zu Ehren des heiligen Markus gab.
    Die Toten aber dachten daran.
    Während Blue bibbernd dasaß, tröstete sie sich damit, dass es dieses Jahr immerhin nicht regnete. Wenigstens etwas.
    An jedem vierundzwanzigsten April fuhren Maura und Blue hierher, zu dieser fernab gelegenen Kirche, die so alt war, dass sich niemand auch nur an ihren Namen erinnerte. Kaum mehr als eine Ruine, schmiegte sie sich an die dicht bewaldeten Hügel außerhalb Henriettas, immer noch mehrere Meilen von den eigentlichen Bergen entfernt. Nur die Außenmauern standen noch; das Dach und die Böden waren schon vor langer Zeit
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