Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
die unsichtbaren Geister empfing.
    Nichts zu hören und nichts zu sehen. Kein Hinweis auf die Anwesenheit der Toten, mit Ausnahme der Namen auf dem Notizblock in ihrer Hand.
    Vielleicht hatte Neeve ja recht. Möglicherweise durchlief Blue tatsächlich so etwas wie eine Identitätskrise. An manchen Tagen fand sie es wirklich ein kleines bisschen ungerecht, dass bei all den Wundern und der Magie in ihrer Familie für sie nur die Schreibarbeit blieb.
    »Zumindest kann ich so überhaupt daran teilhaben«, dachte Blue grimmig, obwohl sie sich in etwa so einbezogen fühlte wie ein Blindenhund. Sie hielt sich den Notizblock vors Gesicht, dicht, dichter, um im Dunkeln ihre Schrift lesen zu können. Das Ganze wirkte wie eine Aufstellung der beliebtesten Namen von vor siebzig oder achtzig Jahren: Dorothy, Ralph, Clarence, Esther, Herbert, Melvin. Auch viele der Nachnamen wiederholten sich. Das Tal wurde von ein paar alteingesessenen Familien beherrscht, die, wenn schon nicht mächtig, dann doch zumindest groß waren.
    Irgendwo außerhalb von Blues Gedanken wurde Neeves Ton plötzlich eindringlicher.
    »Wie heißt du?«, fragte sie. »Hallo, Entschuldigung? Wie ist dein Name?« Aus purer Gewohnheit folgte Blue Neeves Blick in die Mitte des Kirchhofs.
    Und dort sah sie jemanden.
    Blues Herz hämmerte gegen ihr Brustbein wie eine Faust. Und auf der anderen Seite dieses Herzschlags war er , immer noch. Wo eigentlich absolut nichts hätte sein dürfen, stand ein Mensch.
    »Ich sehe ihn«, flüsterte Blue. »Neeve, ich sehe ihn.«
    Blue hatte sich die Prozession der Toten immer wie eine äußerst geordnete Angelegenheit vorgestellt, dieser eine jedoch schien aus der Reihe getanzt zu sein und stand nun zögernd da. Es war ein junger Mann in Stoffhose und Pullover, das Haar zerzaust. Er war nicht unbedingt durchscheinend, aber wirklich da war er auch nicht. Seine Silhouette war so verschwommen, als sähe man sie durch trübes Wasser, sein Gesicht nicht zu erkennen. Außer seiner Jugend verfügte er über kein hervorstechendes Merkmal.
    Er war so jung – diese Tatsache bestürzte sie am meisten.
    Während Blue ihn beobachtete, hob er die Hand und betastete zuerst die Seite seiner Nase, dann seine Schläfe. Es war so eine seltsam lebendige Geste, dass Blue ein wenig übel wurde. Im nächsten Moment stolperte er einen Schritt vorwärts, als hätte ihm von hinten jemand einen Stoß verpasst.
    »Frag ihn nach seinem Namen«, zischte Neeve. »Mir antwortet er nicht und ich muss mich noch um die anderen kümmern!«
    »Ich?«, entgegnete Blue, ließ sich jedoch bereits von der Mauer gleiten. Ihr Herz pochte noch immer wie wild. Sie fragte – nicht ohne sich ein bisschen albern dabei vorzukommen –: »Wie heißt du?«
    Er schien sie nicht zu hören. Ohne ein Zeichen, dass er sie bemerkt hatte, wandte er sich, ganz langsam und immer noch verwirrt, der Kirchenpforte zu.
    »So gehen wir also in den Tod?«, fragte sich Blue. »Wir stolpern ins Vergessen, anstatt bewusst abzutreten?«
    Während Neeve den anderen Toten ihre Fragen stellte, näherte sich Blue dem verirrten Wanderer.
    »Wer bist du?«, rief sie aus sicherem Abstand. Er vergrub die Stirn in den Händen. Sein Körper, das erkannte sie jetzt, hatte keinerlei Konturen und sein Gesicht keine Züge. Eigentlich hatte seine Gestalt überhaupt nichts an sich, das ihn als menschlich kennzeichnete, dennoch sah sie einen Jungen vor sich. Irgendetwas schien ihrem Kopf zu sagen, was er war, auch wenn es ihren Augen diese Information vorenthielt.
    Ihn zu sehen, hatte nichts Faszinierendes an sich, wie sie zuvor geglaubt hatte. Alles, woran sie denken konnte, war: »In einem Jahr wird er tot sein.« Wie ertrug Maura das nur?
    Blue schlich sich dichter an ihn heran. Als sie ihm so nah war, dass sie ihn hätte berühren können, setzte er sich wieder in Bewegung, schien sie jedoch immer noch nicht wahrzunehmen.
    So dicht bei ihm waren ihre Hände plötzlich eiskalt. Genauso wie ihr Herz. Unsichtbare Geister, die keine eigene Körperwärme mehr besaßen, schienen alle Energie aus ihr herauszusaugen und ließen sie frösteln.
    Der junge Mann hatte nun die Kirchentür erreicht und plötzlich wusste Blue – sie wusste es einfach –, dass ihre Chance, seinen Namen zu erfahren, dahin wäre, sobald er hindurchging.
    »Bitte«, sagte Blue, leiser als zuvor. Sie streckte die Hand aus und berührte den äußersten Saum seines nicht existenten Pullovers. Kälte durchströmte sie wie eine plötzliche Welle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher