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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
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Wochenende fast ins Koma und sprühen Graffiti auf das Ortsschild von Henrietta.«
    Die Aglionby Academy war der Hauptgrund für die beiden großen Regeln in Blues Leben. Nummer eins: Halte dich von Jungs fern – die machen nur Ärger. Und Nummer zwei: Halte dich von den Aglionby-Jungs fern – die sind alle Mistkerle.
    »Du scheinst mir ein sehr vernünftiger Teenager zu sein«, sagte Neeve, was Blue ärgerte, denn das wusste sie selbst nur zu gut. Wenn man so wenig Geld hatte wie die Sargents, wurde einem Vernunft in jeglichen Belangen schon früh eingeimpft.
    Im fahlen Licht des beinahe vollen Mondes erkannte Blue, was Neeve in den Staub gemalt hatte. Sie fragte: »Was ist das? So was hat Mom vor Kurzem auch gezeichnet.«
    »Ach, wirklich?«, entgegnete Neeve. Sie betrachteten das Muster. Es bestand aus drei gekrümmten Linien, die einander überschnitten, sodass sie eine Art lang gezogenes Dreieck bildeten. »Aber sie hat dir nicht erklärt, was es ist?«
    »Sie hat es an die Tür der Dusche gemalt. Ich habe nicht nachgefragt.«
    »Ich habe davon geträumt«, sagte Neeve mit so ausdrucksloser Stimme, dass ein unangenehmes Kribbeln Blues Nacken hinunterlief. »Ich wollte wissen, wie es in der Realität aussieht.« Sie wischte die Linien fort und hob dann abrupt eine ihrer schönen Hände. »Ich glaube, sie kommen.«
    »Sie« waren der Grund, aus dem Blue und Neeve überhaupt hier waren. Jahr für Jahr saß Maura auf dieser Mauer, starrte, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, ins Leere und sagte eine Liste von Namen auf. Für Blue wirkte der Kirchhof so leer wie immer, für Maura aber war er voll mit Toten. Nicht mit Menschen, die zu diesem Zeitpunkt bereits tot waren, sondern mit den Geistern derjenigen, die innerhalb der nächsten zwölf Monate sterben würden. Blue musste sich stets damit begnügen, nur eine Hälfte des Gesprächs zu hören. Manchmal erkannte ihre Mutter die Geister, meistens jedoch beugte sie sich vor und fragte sie nach ihren Namen. Maura hatte ihr einmal erklärt, dass sie die Toten ohne Blue nie dazu bringen könnte, ihr zu antworten – wenn Blue nicht dabei war, sahen sie Maura ganz einfach nicht.
    Blue hatte natürlich gern das Gefühl, gebraucht zu werden, manchmal aber wünschte sie sich, sie käme sich dabei weniger vor wie ein besonders praktisches Werkzeug.
    Die Kirchenwache war von entscheidender Bedeutung für eine der außergewöhnlichsten Dienstleistungen, die Maura anbot. Diese bestand darin, ihre Kunden, die in der Gegend wohnten, zu informieren, falls sie selbst oder ein Mitglied ihrer Familie innerhalb der nächsten zwölf Monate sterben würden. Wer würde für so einen Service nicht gutes Geld bezahlen? Tja, die Antwort lautete leider: die meisten Menschen, denn der Glaube an Hellseher war leider nicht sonderlich weit verbreitet.
    »Kannst du schon was sehen?«, erkundigte sich Blue. Sie versuchte, ihre tauben Finger wachzurubbeln, und griff nach einem Notizblock und einem Stift, die neben ihr auf der Mauer bereitlagen.
    Neeve saß vollkommen still. »Irgendetwas hat gerade mein Haar gestreift.«
    Gänsehaut kroch Blues Arme hinauf. »Einer von ihnen?«
    Neeve antwortete mit heiserer Stimme: »Die zukünftigen Toten müssen dem Leichenweg durch das Tor folgen. Das eben war vermutlich eine andere Art von … Geist, den deine Energie angelockt hat. Ich hatte ja keine Ahnung, was für eine Wirkung du haben würdest.«
    Maura hatte nie irgendwelche anderen Toten erwähnt, die Blue angezogen haben sollte. Vielleicht hatte sie ihr nur keine Angst einjagen wollen. Oder Maura hatte sie einfach nicht gespürt – vielleicht erkannte sie diese anderen Geister genauso wenig wie Blue.
    Blue war sich nun unangenehm der leisesten Brise bewusst, die ihr übers Gesicht strich und Neeves lockiges Haar anhob. Unsichtbare, sittsame Seelen noch gar nicht toter Menschen waren ja okay. Aber Geister, die nicht einmal auf den Wegen blieben, das war etwas ganz anderes.
    »Sind die …«, fing Blue an.
    »Wer sind Sie? Robert Neuhmann«, unterbrach Neeve sie. »Wie heißen Sie? Ruth Vert. Und Sie? Frances Powell.«
    Bemüht, nicht den Anschluss zu verlieren, kritzelte Blue die Namen rein nach Gehör so nieder, wie Neeve sie aussprach. Hin und wieder hob sie den Blick und versuchte, wenigstens irgendetwas auf dem Pfad zu entdecken. Aber wie immer war dort nichts zu erkennen außer der verwilderten Fingerhirse, den kaum erkennbaren Eichen. Dem Kircheneingang, gähnend wie ein schwarzer Schlund, der
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