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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
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körperlose Stimme aus dem Gerät:
    »Mehr ist da nicht.«
    Ronan sah sich wieder zu Gansey um, der noch immer neben dem Auto stand, und Gansey registrierte das, was er immer Ronans Raucheratmung nannte: tiefes Einatmen durch geblähte Nasenlöcher, langsames Ausatmen durch geöffnete Lippen.
    Dabei rauchte Ronan nicht einmal. Er zog einen gepflegten Kater vor.
    Ronan schaltete das Aufnahmegerät aus und bemerkte: »Du tropfst dir die ganze Hose mit Benzin voll, alter Junge.«
    »Willst du mich nicht vielleicht mal fragen, was los war, als ich das aufgenommen habe?«
    Ronan fragte nicht. Er sah Gansey einfach weiter an, was auf dasselbe rauskam.
    »Nichts war los. Gar nichts. Ich habe rumgesessen und auf einen Parkplatz voller Krabbelviecher gestarrt, die bei dieser Kälte nachts gar nicht lebendig sein dürften, und da war überhaupt nichts.«
    Gansey war nicht davon ausgegangen, dass er auf dem Parkplatz etwas finden würde, selbst wenn der Ort stimmte. Den Fachleuten zufolge, mit denen er gesprochen hatte, kam es vor, dass Ley-Linien Stimmen über ihre gesamte Länge hinweg transportierten und Laute Hunderte von Kilometern oder Dutzende von Jahren von der Position entfernten, an der sie ursprünglich erklungen waren. Eine Art Audio-Spuk also, eine unvorhersehbare Radiosendung, bei der so gut wie alles, was sich auf der Ley-Linie befand, als Empfänger dienen konnte: ein Aufnahmegerät, eine Stereoanlage, ein geeignetes Paar menschlicher Ohren. Da er über keinerlei seherische Kräfte verfügte, hatte Gansey den Digitalrekorder mitgebracht; außerdem waren die Geräusche meistens ohnehin erst bei der Wiedergabe zu hören. Das Eigenartigste an dieser Sache war jedoch nicht die weibliche Stimme auf dem Band, sondern Ganseys eigene – er war sich ziemlich sicher, dass er kein Geist war.
    »Ich habe keinen Ton gesagt, Ronan. Die ganze Nacht lang. Also wie kommt meine Stimme auf das Band?«
    »Und wie hast du gemerkt, dass sie da ist?«
    »Ich habe die Aufnahme auf der Rückfahrt abgespielt. Nichts, nichts, nichts, und dann: meine Stimme. Und in dem Moment ist Pig liegen geblieben.«
    »Zufall?«, fragte Ronan. »Wohl kaum.«
    Das war sarkastisch gemeint. Gansey hatte schon so oft »Ich glaube nicht an Zufälle« gesagt, dass es mittlerweile jeder wusste.
    Er fragte Ronan: »Und was sonst?«
    »Na, der Heilige Gral natürlich. Das wurde aber auch Zeit«, antwortete der, zu sarkastisch, um auch nur im Geringsten hilfreich zu sein.
    Tatsache war jedoch: Gansey hatte sich in den letzten vier Jahren mit den winzigsten Beweisstückchen zufriedengeben müssen und die kaum hörbare Stimme war alles, was er an Bestätigung brauchte. In seinen achtzehn Monaten in Henrietta hatte er sich an die unwahrscheinlichsten Schnipsel überhaupt geklammert, um endlich die Ley-Linie zu finden – einen schnurgeraden, übernatürlichen Energiepfad, der spirituelle Orte miteinander verband – und das mythische Grab, das er darauf vermutete. Aber das gehörte eben dazu, wenn man nach einer unsichtbaren Energielinie suchte. Immerhin war sie … nun ja, unsichtbar.
    Und möglicherweise auch rein hypothetisch, aber Gansey weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. In seinen siebzehn Lebensjahren hatte er schon Dutzende Dinge gefunden, von denen niemand geglaubt hatte, dass sie möglich waren, und er war fest entschlossen, dieser Liste die Ley-Linie, das Grab und den darin ruhenden König hinzuzufügen.
    Ein Museumskurator in New Mexico hatte einmal zu Gansey gesagt: »Mein Junge, du hast ein geradezu unheimliches Talent dafür, Seltsames zu entdecken.« Von einem verblüfften römischen Historiker stammte der Kommentar: »Du cleveres Kerlchen drehst Steine um, die sonst niemand auch nur beachten würde.« Und ein uralter britischer Professor hatte gestaunt: »Für dich kehrt die Welt ihre Taschen nach außen.« Der Schlüssel zu all diesen Dingen war, so schien es zumindest Gansey, an ihre Existenz zu glauben; man musste sich bewusst machen, dass sie nur Teil von etwas Größerem waren. Manche Geheimnisse offenbarten sich allein denjenigen, die sich als ihrer würdig erwiesen.
    Ganseys Standpunkt war folgender: Wenn man schon in der Lage war, solche Dinge zu finden, dann war man es der Welt auch schuldig, nach ihnen zu suchen.
    »Hey, ist das Whelk?«, fragte Ronan.
    Ein Auto rollte auffällig langsam an ihnen vorbei und gewährte ihnen einen Blick auf den allzu neugierigen Fahrer. Gansey musste zustimmen, dass der Mann ihrem
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