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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
Autoren: Julie Kibler
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nichts dagegen, »ernst« genannt zu werden – das
Attribut, mit dem die anderen Mädchen mich am häufigsten bedachten. »Isabelle,
warum so ernst?«, erkundigten sie sich, während sie sich in die Wangen kniffen,
die Schminke im Spiegel überprüften oder nachsahen, ob die Nähte ihrer Strümpfe
gerade auf ihren Waden saßen.
    Â»Allmählich sollte ich anfangen, mir die Haare selbst zu machen«,
sagte ich zu Nell. »Heutzutage sind Frauen unabhängig und machen alles selbst.«
    Nell zuckte zusammen, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. Zu
spät bemerkte ich, dass meine Äußerung verletzend gewesen war. Sie half mir
seit Jahren, mich für spezielle Anlässe herzurichten – nicht nur als
Hausmädchen, sondern als Freundin. Da wir natürlich nie gemeinsam ein Fest
besuchten, war das zu einem innigen Ritual geworden. Aber ganz gleich, wie nahe
wir uns standen – mehr wie enge Vertraute als wie ein weißes Mädchen und das
Hausmädchen seiner Mutter: Sie hätte es nie gewagt, offen über die Kränkung, so
schmählich von mir fallen gelassen zu werden, zu sprechen.
    Â»Oh, Nell, entschuldige. Das hat nichts mit dir zu tun.« Ich legte
seufzend die Hand auf ihren Arm, doch Nell wich zurück. Zwischen uns hatte sich
eine Kluft aufgetan.
    Obwohl Nell praktisch alles über mein Leben wusste, konnte ich ihr
nicht erzählen, was ich an jenem Abend vorhatte. Ich würde zum Fest von Earline
gehen, ihrer Mutter erklären, dass meine mich zu Hause bräuchte, und
verschwinden. Ich hatte genug von den behüteten, artigen Spieleabenden, die die
Eltern veranstalteten, um ihre Kinder von Ärger fernzuhalten, von den
Versuchungen der Nachtklubs im nahe gelegenen Newport. Als kleines Mädchen
hatte ich oft meiner Tante zugesehen, wie sie sich für abendliche Verabredungen
zurechtmachte. Sie trug gewagte, knielange Kleider, die locker über ihre Hüfte
fielen wie das Gewand einer griechischen Göttin und die mit glänzenden
Gagatperlen oder schimmernden Pailletten besetzt waren. Ihre Begleiter holten
sie in dunklen, eng geschnittenen Anzügen ab, die ihre breiten Schultern
vorteilhaft zur Geltung brachten. Meine Mutter stand schmallippig und mit
gerunzelter Stirn daneben und beklagte sich über die Zügellosigkeit ihrer
Schwester, die unserem Ansehen in Shalerville schadete. Schließlich hatten wir
als Familie des einzigen Arztes im Ort einen Ruf zu verlieren. Tante Bertie
hatte jedoch ihr eigenes Auskommen und wies meine Mutter stets darauf hin, dass
sie nicht von ihnen abhängig war. Mutter blieb keine andere Wahl, als sie gehen
zu lassen.
    Wenn sie spätnachts nach Hause kam, schlich ich mich manchmal zu ihr
ins Zimmer und bat sie, mir von ihren Abenteuern zu erzählen. Und Tante Bertie,
in deren Kleidung Zigarettenrauch hing und deren Atem süßlich-scharf roch,
berichtete mir, was sie erlebt hatte – wahrscheinlich nur in gekürzter Fassung,
wie ich inzwischen vermutete. Sie schilderte mir die Kleider der anderen
Frauen, deren Begleiter, die Musik, den Tanz, die Glücksspiele, das üppige
Essen und die Drinks. Da wurde mir klar, dass ich mich niemals mit den
langweiligen Veranstaltungen begnügen würde, die meine Eltern in ihrer tristen
Kleidung besuchten und von denen sie mit finsterer Miene zurückkehrten, als sie
gegangen waren. Wenig später zog Tante Bertie bei uns aus, weil meine Mutter
nicht länger duldete, dass sie unsere Regeln missachtete. Wenige Wochen später
nahm ihr betrunkener Begleiter die falsche Abzweigung und fuhr über das
Steilufer am Fluss; sie waren beide auf der Stelle tot. Schockiert hörte ich
meine Mutter behaupten, das sei der gerechte Lohn für Tante Berties
ausschweifende Lebensweise gewesen, bevor sie sich ins Bett zurückzog und
mehrere Tage dort blieb. Wir Kinder durften nicht zur Beerdigung. Ich weinte
allein in meinem Zimmer, während meine Eltern dem Gottesdienst beiwohnten, und
danach war nie mehr die Rede von meiner Tante.
    Doch Tante Bertie fehlte mir immer noch sehr. An jenem Abend hoffte
ich, ein wenig von dem zu erleben, was sie mir von ihren Abenteuern erzählt
hatte. Anfang der Woche hatte ich mich in der Schule neben ein neues Mädchen
setzen müssen; Trudie war von Newport nach Shalerville zu ihrer Großmutter
gezogen. Alle anderen in der Klasse hänselten oder ignorierten sie – wer neu in
unseren Ort kam, war
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