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Zoë

Titel: Zoë
Autoren: C Carmichael
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doch wohl jedes Waisenkind, oder? Dass ein großer, starker, bedeutender Mann im allerletztenMoment hereinstürmt und sagt: »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen, von jetzt ab bin ich dein neuer Daddy. Und ich kümmere mich um alles und jedes.« Klar doch.
    Gerade mal zwei Tage kannte ich ihn, Henry Augustus Royster, meinen Halbonkel väterlicherseits, und schon ging er mir ohne Ende auf den Geist – nie saß er still, immer war er mürrisch, kaum hatte er die großen, immer schmutzigen Hände in die Taschen seiner noch schmutzigeren Jeans geschoben, zog er sie wieder hervor, mal strich er sich durch den rot-grauen Bart, mal über das rote Kopftuch auf seinem kahlen Kopf, dann rückte er sein Brillengestell aus Draht zurecht, immer war er auf dem Sprung, und wenn ich ihn irgendwo aufspürte, guckte er genervt. Suchte sofort nach Fluchtmöglichkeiten, das sah ich. Nicht anders als Lester oder Manny, Charlie, Harlan oder Ray. Keiner von denen hatte es lange ausgehalten. Bei diesem würde es nicht anders sein.
    »Nimm, was du möchtest«, sagte er gerade zum dreiundvierzigsten Mal. Immerhin. Die Erwachsenen, die ich sonst so kannte, waren beim Einkaufen alle ziemlich zugeknöpft. »Egal, was.«
    »Okay« sagte ich und machte einen Versuch. »Dann reich mir doch mal zwei Six-Packs Bier und eine Stange Zigaretten. Light «, fügte ich hinzu. »Ich muss ein bisschen kürzertreten.«
    »Du rauchst und trinkst doch wohl nicht«, blaffte er mich an. »Du bist doch erst elf.«
    » Fast zwölf. Und tatsächlich rauche ich kaum noch«, sagte ich, während ich eingehend die Regale mit den Cornflakes-Packungen betrachtete. »Mit sechs hab ich gequalmt wie ein Schlot.«
    Ich vermutete, dass er sich das Lachen verkneifen musste, aber man sah nichts davon, der Mund verschwand ganz hinter diesem Kaktusstachelbart. Er starrte mich bloß an.
    Ich starrte zurück. »Du bemerkst einen Witz wohl nicht mal, wenn er dich in den Hintern beißt.«
    »Meinst du?«
    »Wetten, du bist Krebs?«
    »Ich bin was ?«
    »Dein Sternzeichen. Krebs.«
    »Aha.«
    »Die großen Schweiger. Sag ich doch.«
    Er war breit gebaut, muskulös, und für so ein Fossil von über fünfzig sah er ganz gut aus. Allerdings – für einen alten Mann war er eher merkwürdig gekleidet: Muskelshirt, dreckige Jeans, schwere Stiefel, ein Kopftuch oder irgendeinen Stofffetzen um die Glatze gewickelt, dazu auf einer Seite einen roten Ohrstecker wie ein Pirat. Seine Oberarme hatten den Umfang von Zaunpfosten, seine Hände die Größe von Baseballhandschuhen, mit einer allein hätte er mich mit Leichtigkeit hochheben können. Einen Bauch hatte er auch, aber an ihm machte sich das irgendwie gut, dadurch sah er aus wie jemand, den nichts umwerfen kann. Allerdings sähe er besser aus, wenn er mal lachen würde, und so machte ich es mir zu meiner persönlichen Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er ein bisschen lockerer wurde.
    Ich kam wieder auf mein Thema zurück. »Mit acht war ich richtige Kettenraucherin. Aber das ging mir auf die Lungen und machte sich beim Kickball bemerkbar.«
    Henry grinste.
    »Reich mir doch mal die Rosinen-Flocken vom oberen Regal«, sagte ich und zeigte auf die Müslipackungen. Er war erträglicher, wenn er was zu tun hatte, wenn seine Hände beschäftigt waren. Bei Mama war das auch so, als sie im Krankenhaus war: Solange sie Topflappen häkelte oder Aschenbecher machte, lenkte sie das wenigstens vom Verrücktsein ab.
    »Sonst noch was?«, fragte er ungeduldig.
    Ich schob den Wagen durch den Gang mit dem ganzenWellness- und Kosmetikkram in Richtung Shampoos und spürte, wie er meine magere Gestalt musterte: Jeans, T-Shirt, Flip-Flops, die wüste Mähne aus roten Locken, die sich nicht zähmen ließen, ganz egal, wie viel Pflegespülung ich benutzte. Sie hatten dieselbe Farbe wie die roten Teile von Henrys Bart. Na schön, immerhin etwas, was wir gemein hatten.
    »Ich nehm das bessere, wenn du schon bezahlst.«
    »Mach, was du willst.«
    Ich nahm das teure Markenshampoo aus dem Regal und sah mich um. Henry hatte noch sechs bis acht Schachteln von den Frühstücksflocken in den Wagen geworfen, alles dieselbe Sorte. Ich hatte zwar irgendwo gelesen, dass Künstler merkwürdig sind, aber so langsam machte ich mir wegen Henry Sorgen. Das Letzte, was ich brauchen konnte, war noch so ein Fall wie Mama.
    Eine Kundin kam durch den Gang und lächelte ihm im Vorbeigehen kokett zu. Henrys einzige Reaktion war ein Knurren. Echt.
    »Die reine Fleischbeschau hier«, sagte
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