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Zielstern Beteigeuze

Zielstern Beteigeuze

Titel: Zielstern Beteigeuze
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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diesen Gedanken geschah etwas kaum Beschreibbares: Ihr Gefühl wußte sich mit Kiliman verbunden, wußte, daß sie nicht nur seine Gefühle mitfühlte, sondern er auch die ihren; und so wandte sie sich ihm ganz zu. Sie tat etwas, was sie bisher nie getan hatte und was sich nur höchst oberflächlich umschreiben ließ, etwa mit den Worten: Sie öffnete sich ihm.
    Unter all dem Hinundherfluten von Gefühlsströmen, die sie in nie gekannter Genauigkeit empfand, auch wenn sie sie nicht treffend benennen konnte, vielleicht, weil sie ihre Sprache nie in dieser Richtung ausgebildet hatte, vielleicht aber auch, weil die menschliche Sprache überhaupt noch nicht genügend dazu ausgebildet war - unter all diesen sich entfaltenden Kräften, die doch ihre Kräfte waren oder auch ihre Kräfte, hatte sie die Vorstellung, sie würde ausschlüpfen aus ihrem bisherigen Wesen und jetzt, Anfang Sechzig, erst wirklich voll ausgebildet und also erwachsen, und plötzlich, gemessen an den wenigen Minuten des neuen Daseins, empfand sie ihr bisheriges Leben als Eingesperrtsein in einer Enge, an die sie nur mit Bedauern zurückdenken konnte.
    Und Kiliman wußte das alles, er fühlte mit, als erlebe er selbst das, was in Atacama vorging. Was ihn mehr noch überraschte als diese Tatsache selbst, das war der Umstand, daß er sich all dessen ganz sicher war. Nicht nur seinem Wesen, auch seinen Erfahrungen mit Atacama hätte etwas Bedenklichkeit mehr entsprochen, etwas Schwanken zwischen Hoffen und Bangen. Aber nein, er wußte ganz sicher, was in ihr vorging, er war sogar verblüfft über den Sachverhalt, daß all ihre Schwierigkeiten, die sie miteinander gehabt hatten, nur insofern in ihm gewurzelt hatten, als es ihm nicht gelungen war, die Kruste zu durchbrechen, unter der sich Atas jetzt hervorgetretenes Wesen verborgen hatte.
    Und der Gesellschaftswissenschaftler in ihm dachte: Wie vielen Menschen mag es immer noch so gehen, daß sie nicht dazu kommen, ihr eigentliches Wesen zu entfalten? Wie hoch mag der Prozentsatz sein? Was für ungeahnte Möglichkeiten sind noch im Menschen verborgen, und was ist nötig, sie zutage zu fördern? Und ergibt sich daraus nicht Richtung und Aufgabe für die Gesellschaft, jetzt, am Ende der wissenschaftlich-technischen Revolution, die noch ausgangs der Vorgeschichte begonnen hatte, aber deren Nachwirkung immer noch darin bestand, daß die menschlichen Verstandes- und Sprechwerkzeuge ungeheuer scharf und ausdrucksstark waren für alles Logisch-Wissenschaftliche, aber unglaublich stumpf und armselig, wenn es darum ging, Gefühle auszudrücken? Dies freilich nicht gemessen an der Vergangenheit, sondern an den Erfordernissen der Zukunft. Denn es zeigte sich ja nun wohl, daß der Abstand, den die Gesellschaft der Geusen von uns hat, nicht nur in Jahrtausenden wissenschaftlich-technischer Entwicklung besteht.
    Als sie einander wieder mit Augen sahen und mit Ohren hörten, vermißten sie zuerst schmerzlich den direkten Gefühlskontakt; aber dann begannen sie, diesem Umstand etwas Gutes abzugewinnen, konnten sie doch künftig danach streben, diesem Einssein, wenn es auch unerreichbar blieb ohne die Hilfe der Geusen, so nahe zu kommen, wie es ihnen irgend möglich war.
    Es war wohl so eine Art Befreiung der Gefühle gewesen, was ihnen zugestoßen war, aber ihr neues Glück war doch nicht so eng und egoistisch, daß sie darüber etwas anderes vergessen hätten - nämlich daß die eigentlichen Erwartungen, die sie selbst und Hirosh gerade in ihre Reise gesetzt hatten, nicht erfüllt waren.
    „Du mußt entschuldigen“, sagte Kiliman zu Hirosh, „wenn wir uns nun nicht ausgesprochen unglücklich fühlen deshalb.“
    „Warum auch“, sagte Hirosh nachdenklich, „sind zwei glückliche Menschen nicht ein wertvolleres Ergebnis als ein Sack voll Erkenntnisse?“
    Das Raumschiff war vom Planeten gestartet, nachdem alle noch einmal geruht hatten. Jetzt beschrieb es eine Parkbahn in der Exosphäre, die die Verdopplungszone beinahe streifte.
    Hirosh hatte alle Mitglieder der Expedition in der Zentrale versammelt. Die meisten dachten wohl, es gäbe jetzt ein paar formale Abschiedsworte, denn ein Flug mit der Basisfähre durch die Verdopplungszone war nicht mehr möglich. Aber sie hatten sich getäuscht.
    „Wir haben uns hier versammelt“, sagte Hirosh, „um noch einmal gemeinsam nachzudenken. Aber es soll sozusagen ein Nachdenken besonderer Art sein. Schon normalerweise ist ja Nachdenken weit mehr als der Vollzug logischer
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