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Zeit für Eisblumen

Zeit für Eisblumen

Titel: Zeit für Eisblumen
Autoren: Katrin Koppold
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Ich kann sie jetzt nicht hängen lassen. Nicht so, wie mein Vater es getan hat. Aber es ist nicht nur das. Ich habe während des Studiums gemerkt, dass ich es nicht schaffe.“
    „Was schaffst du nicht?“ Ich schaute ihn an, doch er starrte nach vorne an die Wand. Auf die Escher-Zeichnung mit den Treppen, die aus dem Nichts zu kommen schienen und genau dort auch wieder verschwanden.
    „Ich komme mit dem Druck nicht klar. Auf die Juilliard gehen die Besten der Besten. Ich müsste mich jeden Tag neu beweisen. Und ich weiß nicht, ob ich das möchte. Es war immer der Traum meines Vaters, dass ich ein berühmter Geiger werde. Er hat im Irish Chamber Orchestra in Limerick gespielt. Meine erste Geige habe ich mit drei Jahren bekommen und er hat mir selbst Unterricht gegeben. Nachdem er uns verlassen hat, wollte ich ihm zeigen, dass ich auch ohne ihn zurechtkomme. Ich habe geübt, bis meine Fingerkuppen wehgetan haben, nur um ihm bei seinem nächsten Besuch ein Lied fehlerfrei vorspielen zu können.“
    „Hast du noch Kontakt zu ihm?“
    „Schon länger nicht mehr. Er wohnt bei Limerick. Hat wieder geheiratet. Eine Cellistin. Sie haben zwei Kinder, die beide mindestens so begabt sind wie ich. Irgendwann während der Abschlussprüfung habe ich mich gefragt, warum ich so verzweifelt versuche, den Traum eines anderen zu erfüllen, wenn er sich nicht mehr für mich interessiert.“
    „Dein Traum ist es nicht, in einem großen Orchester zu spielen oder sogar als Solist aufzutreten?“
    David schüttelte den Kopf.
    „Aber in München hast du noch so begeistert gewirkt, als du mir von diesem Stipendium erzählt hast. Wollte sich nicht einer deiner Professoren für dich einsetzen?“
    „Es hat eine Zeit lang gedauert, bis ich mir meine Gefühle eingestanden habe.“ Er lächelte schief. „Außerdem war ich mir sicher, dass ich eine so hübsche Frau wie dich nur rumkriege, wenn ich ihr erzähle, dass ich bald ein berühmter Stargeiger bin. Oder hättest du auch einen Reitlehrer genommen?“
    „Wahrscheinlich schon.“ Gut, damals wahrscheinlich nicht.
    Von seinem Vater hatte David nie erzählt. Seltsam! In irgendeiner Form hatten wir alle unser Päckchen zu tragen.
    David blickte auf. Ich nahm seine Hand und fuhr mit dem Daumen über seinen Handrücken. Er lächelte mich an und ich erwiderte dieses Lächeln. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben hätten wir wahrscheinlich gar nicht schlecht zusammengepasst.
    Die Tür zum Warteraum wurde geöffnet und der Chirurg erschien.
    Ich sprang auf.
    „Ihr Sohn hat die OP gut überstanden. Er liegt im Aufwachraum“, sagte er.
    „Das ging aber schnell.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr.
    „Er muss noch eine Nacht auf der Intensivstation bleiben und mindestens eine Woche im Krankenhaus. Aber die Operation ist komplikationslos verlaufen, der Knochen war nicht gesplittert. Schon bald wird Ihr Sohn wieder herumlaufen.“
    Ich drückte David fest an mich. „Hast du gehört? Er hat alles gut überstanden. Kann ich zu ihm?“
    Der Chirurg nickte. „Aber er schläft noch.“
    Glücklich folge ich ihm nach draußen. In der Tür stieß ich mit Ian und Milla zusammen.
    „Paul hat alles gut überstanden. Ich kann zu ihm.“ Ich fiel beiden um den Hals.
    „Gott sei Dank.“ Meine Mutter strahlte und brach im nächsten Moment erneut in Tränen aus.
    „Wir haben dir etwas mitgebracht.“ Ian gab mir Hugo und eine Sporttasche mit ein paar Kleidungsstücken. Ich drückte meine Nase gegen das schon leicht ramponierte Stofftier. Meine Mutter hatte recht. Gott sei Dank! Gott sei Dank war alles gut verlaufen.

    Im Aufwachraum stand ein einzelnes Bett. Paul lag darin, blass und zerbrechlich, die Augen immer noch geschlossen. Wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen sah er aus. Ich setzte mich auf einen Stuhl und nahm seine Hand. Eine Kanüle steckte darin.
    „Na, kleiner Mann“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. „Du hast mir vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Einfach so vor ein Auto zu laufen.“ Paul zog die Nase kraus und ich starrte einige Augenblicke auf die blinkenden Apparate, an die er angeschlossen war.
    „Weißt du, in den letzten Monaten habe ich ziemlich viel Mist gebaut. Als du noch in meinem Bauch gesteckt hast, war ich mir sicher, dass es möglich ist, mit einem Wurm wie dir mein Leben ganz normal weiterzuführen. Doch das hat nicht geklappt. Auf einmal musste ich mich komplett nach einem anderen Menschen richten. Für
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