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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes
Autoren: Ravensburger
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machte mir nichts aus, dass ich den Bus durch die Stadt nehmen musste.
    An diesem Morgen sagte ich mir, ich hätte dadurch Zeit, über alles nachzudenken, was jetzt passierte. Ich versuchte nachzudenken, aber ich konnte nicht denken. Ich beobachtete die Leute beim Ein- und Aussteigen. Ich schaute ihnen zu, wie sie Zeitung lasen oder ihre Nägel putzten oder verträumt aus dem Fenster sahen. Aber indem man sie beobachtet, kann man noch lange nicht sagen, was sie denken oder was sich in ihrem Leben ereignet. Auch wenn bekloppte oder betrunkene Menschen in den Bussen waren, Menschen, die sich dumm benahmen oder Quatsch redeten oder versuchten, einem alles über sich zu erzählen, wusste man trotzdem nicht wirklich etwas über sie.
    Ich wollte aufstehen und sagen: „Ein Mann ist in unserer Garage, und meine Schwester ist krank, und heute ist der erste Tag, an dem ich von unserem neuen Haus zu meiner alten Schule fahre.“
    Aber ich tat es nicht. Ich sah einfach weiter all die Gesichter an und schwankte weiter nach hinten und nach vorn, wenn der Bus um die Ecken schwankte. Ich wusste, auch wenn mich jemand anschaute, würde er genauso wenig von mir wissen.
    Es war seltsam, wieder in der Schule zu sein. Plötzlich lastete Schweres auf mir, aber die Schule war wie immer. Rasputin bat uns nach wie vor, bei der Morgenandacht unsere Herzen und unsere Stimmen zu erheben und laut zu singen. Der Yeti schrie uns an, in den Gängen auf der linken Seite zu bleiben. Monkey Mitford wurde rot im Gesicht und stampfte mit den Füßen, wenn wir unsere Bruchrechnungen nicht konnten. Miss Clarts hatte Tränen in den Augen, als sie uns die Geschichte von Ikarus erzählte, wie seine Flügel schmolzen, weil er der Sonne zu nahe gekommen war, und wie er an seinem Vater Daedalus vorbei wie ein Stein ins Meer fiel. In der Mittagspause stritten Leakey und Coot eine Ewigkeit darüber, ob ein Schuss ins Aus gegangen sei. Ich konnte mich mit all dem nicht abgeben. Ich ging zum Zaun an der Ecke des Spielfelds und starrte auf die Stadt, in die Richtung, wo ich jetzt lebte. Als ich dort stand, kam Mrs Dando, eine der Aushilfslehrerinnen, zu mir. Sie kannte meine Eltern schon seit Jahren.
    „Geht’s dir gut, Michael?“, sagte sie.
    „Ja.“
    „Und dem Baby?“
    „Auch gut.“
    „Spielst du heute nicht Fußball?“
    Ich schüttelte den Kopf.
    Sie nahm einen Früchtekaugummi aus der Tasche und hielt ihn mir hin. Früchtekaugummi. Das gab sie den Neuankömmlingen, wenn die irgendwie traurig waren.
    „Nur für dich“, flüsterte sie und zwinkerte mir zu.
    „Nein“, sagte ich. „Nein, danke.“
    Und ich rannte zurück und startete einen großartigen, schwungvollen Angriff auf Coot.
    Den ganzen Tag lang überlegte ich, ob ich jemandem erzählen sollte, was ich gesehen hatte, aber ich erzählte es niemandem. Ich sagte mir, es sei nur ein Traum gewesen. Das musste es gewesen sein.

6
    Im Boden war ein Loch, dort wo Ernies Toilette gestanden hatte. Es war mit Zement gefüllt worden. Die Sperrholzwand war weg. Ernies alter Gasherd war weggebracht worden und hinter dem Herd war nur eine schwarze viereckige Öffnung. Der Boden war völlig durchnässt und stank nach Desinfektionsmittel. Papa war schmutzig und nass und grinste. Er nahm mich mit in die Wildnis. Dort stand die Toilette, mitten in Disteln und Unkraut.
    „Dachte, das gäbe einen schönen Gartenstuhl für uns“, sagte er.
    Der Gasherd und das Sperrholz lagen hinten neben der Garage. Sie waren nicht hineingebracht worden.
    Papa sah mich an und zwinkerte mir zu. „Komm und schau dir an, was ich gefunden habe.“
    Er führte mich zur Garagentür.
    „Halt dir die Nase zu“, sagte er. Er bückte sich und fing an, ein Zeitungspaket zu öffnen. „Bereit?“
    Es waren Vögel. Vier Vögel.
    „Hab sie hinter dem Herd gefunden“, sagte er. „Müssen im Kamin stecken geblieben sein und konnten nicht mehr hinaus.“
    Man konnte gerade noch erkennen, dass drei von ihnen Tauben waren, weil sie graue und weiße Federn hatten. Der vierte hatte die Form einer Taube, aber er war ganz schwarz.
    „Den hab ich als Letzten gefunden“, sagte er. „Er lag unter einem Haufen Ruß und Staub, der durch den Kamin herabgefallen war.“
    „Ist das auch eine Taube?“
    „Ja. Sie lag dort eben eine lange, lange Zeit.“
    Er nahm meine Hand.
    „Berühre sie“, sagte er. „Befühl sie. Komm schon, es ist nicht schlimm.“
    Ich ließ ihn meine Finger an den Vogel halten. Er war steinhart. Sogar die Federn
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