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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes
Autoren: Ravensburger
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Goldammer, die uns letzten Donnerstag besucht hat.“
    Sie zeigte mir die Goldammer, das Grün, das Rot und das leuchtende Gelb ihrer Federn.
    „Mein Lieblingsvogel“, sagte sie.
    Sie schlug das Buch zu.
    „Magst du Vögel?“, fragte sie und sah mich an, als ob etwas, was ich getan hatte, ihr gegen den Strich ginge.
    „Ich weiß nicht“, sagte ich.
    „Typisch. Zeichnest du gern?“
    „Manchmal.“
    „Wenn du zeichnest, schaust du dir die Welt noch genauer an. Es hilft dir, das, was du dir gerade anschaust, klarer zu sehen. Wusstest du das?“
    Ich sagte nichts.
    „Welche Farbe hat eine Amsel?“, sagte sie.
    „Schwarz.“
    „Typisch!“
    Sie schwang sich in den Garten.
    „Ich gehe hinein“, sagte sie. „Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. Ich würde auch gern deine kleine Schwester sehen, wenn es sich machen lässt.“

10
    Ich versuchte diese Nacht wach zu bleiben, aber es war hoffnungslos. Ich träumte sofort. Ich träumte, das Baby sei im Amselnest in Minas Garten. Die Amsel fütterte es mit Fliegen und Spinnen, und es wurde stärker und stärker, bis es vom Baum wegflog und über die Dächer und auf das Garagendach. Mina saß auf der hinteren Gartenmauer und zeichnete es.
    Als ich näher kam, flüsterte Mina: „Bleib weg. Du bist eine Gefahr!“
    Dann schrie das Baby im Zimmer nebenan, und ich wachte auf. Ich lag und hörte, wie Mama das Baby koste und tröstete und wie das Baby quiekte und zischte. Die Vögel draußen sangen. Nachdem das Baby gefüttert worden war und ich sicher war, dass alle schliefen, kroch ich aus dem Bett, nahm meine Taschenlampe, zog mich an und ging auf Zehenspitzen an ihrem Zimmer vorbei. Ich holte ein Fläschchen Aspirin aus dem Bad. Ich ging die Treppe hinunter, öffnete die Hintertür und schlich in die Wildnis hinaus.
    Die Fertiggerichtschachteln lagen unter Zeitungen und unter einem Haufen Unkraut. Sie waren umgekippt und viel von der Soße war herausgelaufen. Das Char Sui war ganz zähflüssig, rot und kalt. Ich legte die durchweichten Frühlingsrollen in die Schachtel mit dem Char Sui und ging zur Garage.
    „Du bist ganz schön blöd“, sagte ich zu mir. „Bestimmt spinnst du allmählich.“
    Ich blickte zur Amsel auf dem Garagendach und sah, wie sie den gelben Schnabel ganz weit öffnete, während sie sang. Ich sah es golden und blau schimmern, wo das Morgenlicht auf ihr Schwarz schien.
    Ich knipste die Taschenlampe an, holte tief Luft und ging hinein. Das Trippeln und Kratzen fing an. Es jagte etwas über meinen Fuß hinweg und ich ließ beinahe das Essen fallen.
    Ich kam zu den Teekisten und leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum dahinter.
    „Du schon wieder?“, krächzte er. „Dachte, du wärst weggegangen.“
    „Ich habe etwas mitgebracht“, sagte ich.
    Er öffnete die Augen und sah mich an.
    „Aspirin“, sagte ich. „Und Nummer 27 und 53. Frühlingsrollen und Schweinefleisch Char Sui.“
    Er lachte, aber er lächelte nicht.
    „Nicht so dumm, wie du aussiehst“, krächzte er.
    Ich hielt ihm die Fertiggerichtschachtel über die Teekisten hinweg entgegen. Er nahm sie in die Hand, aber er fing an zu zittern, und ich musste sie zurücknehmen.
    „Keine Kraft“, krächzte er.
    Ich zwängte mich zwischen den Teekisten hindurch und hockte mich neben ihn. Ich hielt die Schachtel hoch und beleuchtete mit der Taschenlampe das Essen. Er tauchte einen Finger hinein, leckte ihn ab und seufzte. Er steckte den Finger noch einmal hinein und angelte eine lange schleimige Schnur aus Bohnensprossen und Soße. Er streckte die Zunge heraus und leckte. Er schlürfte Schweinefleischstücke und Pilze aus der Schachtel, schob die Frühlingsrollen in den Mund. Die rote Soße rann ihm von den Lippen, am Kinn herab auf die schwarze Jacke.
    „Aaaah“, sagte er. „Ooooooh.“
    Es hörte sich an, als ob er es mögen würde oder als ob er leiden würde oder beides zugleich. Ich hielt ihm die Schachtel näher ans Kinn. Er tauchte die Finger hinein und leckte und seufzte.
    Seine Finger waren gekrümmt und miteinander verschlungen. Die Gelenke waren geschwollen.
    „Tu das Aspirin hinein“, sagte er.
    Ich tat zwei Aspirin in die Soße, er pickte sie heraus und schluckte sie. Er rülpste und rülpste. Seine Hand glitt wieder an seine Seite. Sein Kopf fiel zurück gegen die Wand.
    „Speise der Götter“, flüsterte er. „27 und 53.“
    Ich stellte die Schachtel neben ihn auf den Boden und beleuchtete ihn mit der Taschenlampe. Er hatte Hunderte winziger Falten und
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