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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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bemerkte die Angst und die Qualen hinter ihrem unschuldigen Gesicht. Seine Frustration über die verlorenen Jahre gehörte bereits der Vergangenheit an. Und seine Trauer über Charlies Schmerz – nun war er ja hier.
    »In Ordnung«, sagte Dafydd lächelnd. »Aber tu’s nie wieder.«
    Der Mann und der Junge standen am Fenster. Es war mitten am Morgen an einem der dunkelsten Tage des Jahres. Sie beobachteten schweigend, wie sich das Licht langsam vom östlichen Himmel her ausbreitete. Unsichtbar zog die Sonne hinter dem Horizont nach Süden. Bei fast fünfzig Grad minus war alles still und völlig reglos.
    »Ich hoffe, dass du hier bist, wenn die Sonne zu unserem Land zurückkehrt«, sagte Charlie.
    »Wann ist das?«, fragte Dafydd.
    »Gegen Ende Januar.«
    »Ich glaube, dass du mich kaum wieder loswirst.«
    Charlie wollte antworten, aber dann fing er Dafydds unsicheren Blick auf und schwieg. Auch wenn die Zukunft groß, endlos und voller Hoffnung zu sein schien, war es zu früh, darüber zu sprechen, und Dafydd hoffte nur, dass Charlie ihm vertraute. Charlie nickte weise, lächelte Dafydds Lächeln, und dann wandten sie ihre Gesichter wieder dem arktischen Morgen zu.
    »Irgendwo da draußen ist es passiert?« Dafydd wies auf die öde Weite des gefrorenen Meeres.
    »Ich würde es dir gern zeigen«, erwiderte Charlie. Seine Augen wichen nicht von dem Panorama, aber seine Stimme zitterte leicht und verriet seine Furcht. »Zumindest, wo es ungefähr war. Uyarasuq und ich haben dort eine Schnitzerei aufgestellt, um den Platz zu kennzeichnen, aber als das Eis zerbrach, ist sie im Meer versunken. Ich habe sie ›Eisfalle‹ genannt. Es war ihre beste Arbeit, aber sie war auch gruselig. Ich habe sie mir genau eingeprägt, damit ich sie eines Tages selbst schnitzen kann.«
    »Ich hätte sie sehr gern gesehen. Oder, noch besser, besessen«, sagte Dafydd.
    Charlies dunkle Augen blickten ernst. Dafydd sah in ihnen eine weit über das Alter des Jungen hinausreichende Tiefe und Stärke. Die Begegnung mit dem Tod hatte ihn älter werden lassen, ihn zum Mann gemacht.
    »Ich schnitze sie bald und schenke sie dir – dafür, dass du mich gefunden hast.«
    »Ich werde sie in Ehren halten«, versicherte Dafydd und legte die Hand auf die Schulter des Jungen.
    »Ich habe die Entfernungen in etwa abgemessen. Aber ich kann mich sowieso gut an den Ort erinnern.«
    »Wenn du ihn mir zeigen willst«, sagte Dafydd feierlich, »dann müssen wir hingehen.«
    »Heute?«, fragte der Junge. »Lass es uns jetzt tun.«
    »Bist du sicher?«, fragte Dafydd, als er bemerkte, dass das Kinn des Jungen leicht zitterte und ein unnatürlicher Glanz in seine Augen getreten war.
    »Ja.« Er lächelte grimmig. »Da du nun hier bist, sollte ich mich der Sache besser noch einmal stellen, oder?«
    »Möchtest du, dass deine Mutter mit uns kommt?«
    »Nein, lass sie uns nicht aufwecken«, sagte Charlie. »Ich habe sie die ganze Nacht an dem ›Alten Jäger mit Axt‹ schnitzen und schaben hören. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt schläft. Ich habe ihr gesagt, dass die Küche tabu ist, aber morgens sieht sie immer wie ein verdammter Steinbruch aus. Zum Frühstück gibt’s dann Steinstaub, verfixt.«
    Dafydd lachte. »Dann verschwinden wir besser, bevor es das Licht tut. Lass uns deiner Mum eine Nachricht schreiben.«
    »Nenn sie Uyarasuq. Ich bin alt genug.«
    Das trübe Tageslicht warf keine Schatten. Mit Mühe kletterten sie über die zackigen Eisblöcke, die sich am Ufer auftürmten. Schmale Spitzen aus durchsichtigem Eis ragten in den bizarresten Winkeln in den Himmel. Charlie mühte sich mit seinem bionischen Bein ab und stieß leise unverständliche, fremdsprachige Flüche aus. Mit einer Ausnahme lehnte er die Hand ab, die Dafydd ihm anbot. Er musste sich selbst seinen Weg bahnen. Seine Arme waren stark und halfen, die Schwäche seines Unterkörpers zu kompensieren. Meist hievte er sich selbst über die Hindernisse, indem er die Hände auf die vorspringenden Eisplatten legte und die Beine nach vorn schwang.
    Dafydd trug seinen Stock und ein Gewehr unter dem Arm. Sogar einem gesunden, unbehinderten Mann fiel es außerordentlich schwer, das Eis am Ufer zu überqueren. Manche Stellen erwiesen sich als ganz besonders gefährlich, weil die schneebedeckten Spalten und Eisstücke dort so schlüpfrig waren, als wären sie geölt worden. Immerhin verhinderte die heftige Anstrengung, dass ihnen zu kalt wurde.
    Sobald sie die gefrorene Wasserfläche erreicht
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