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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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Charlie vielleicht nicht retten könne, hat er versucht, ihm beim Übergang auf die andere Seite zu helfen, aber Charlie änderte seine Meinung. Er entschied sich zu leben. Vielleicht wusste er, dass du kommen würdest.«
    Dafydd starrte sie an.
    »Vielleicht muss man sogar noch einen Schritt weiter zurückgehen«, fuhr sie fort. »In der Nacht, in der du angerufen hast, kam mein Vater im Traum zu mir. Er hat mir erzählt, dass Charlie ganz bewusst auf das Eis hinausgegangen ist, um mit dem Bären zusammenzutreffen. Auf diese Weise hat sein Geist nach dir gerufen. Er hat über die Ozeane hinweg nach seinem Vater gerufen, und du bist den ganzen Weg hierher gekommen, um ihn zu finden. Nur sein naher Tod war stark genug, dich zu erreichen und herzubringen.«
    Dafydd war erschüttert. Es war ein ungewöhnlicher Gedanke. Vielleicht war Sheila nur eine Schachfigur in einem größeren Spiel gewesen. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf.
    Uyarasuq missverstand die Geste und schaute ihn trotzig an. »Mein Vater lebt in der Geisterwelt und weiß um diese Dinge. Er war ein echter angatkuq. Gerade du solltest das glauben. Schließlich hast du selbst etwas von seinem Wissen erworben.«
    »Hättest du nicht versuchen können, mich zu finden?«, schrie Dafydd. »Du hättest es versuchen können. Wenn du an den Traum, an die Worte deines Vaters glaubst, dann bedeutet das, dass Charlies Leid sinnlos war, der Verlust seines Beines …«
    Er verstummte schlagartig, als Uyarasuq in Tränen ausbrach. »Woher sollte ich das wissen? Ich bin kein angatkuq«, schluchzte sie. »Ich hatte lange darauf gewartet, dass Charlie mich fragt, wer sein Vater ist. Ich fürchtete mich davor, weil ich ihm dann antworten musste, dass du seit langem fort warst, weit, weit weg. Dass du ein anderes Leben führtest und nichts von ihm wusstest.
    Aber er hat die Frage nicht gestellt, weil er so feinfühlig ist … Er hat auf mich gewartet und mir die Wahl gelassen, ihm von dir zu erzählen. O Gott, wie ich mein Schweigen bereut habe. Erst wegen Charlie … und jetzt auch deinetwegen.« Sie schnäuzte sich mit einem Taschentuch, das Dafydd aus seiner Tasche gezogen und ihr gereicht hatte. »Mein Vater hätte mir den richtigen Rat geben können. Aber er sagte immer, dass jeder von uns den Weg geht, den er gehen soll. Einige wählen den schmerzlichsten und schwierigsten. Meiner muss einer der schieren Dummheit sein.«
    Dafydd wollte seinem Zorn freien Lauf lassen. Er hatte jegliches Recht dazu, aber was verstand er schon von ihrem Dilemma? Er blickte ins Feuer im Kamin, auf die knackenden Holzscheite. Schlagartig tauchte das Bild des alten Mannes, Angutitaq, vor ihm auf, und er erinnerte sich wieder an die subtile Verwandlung, welche die Kraft des Schamanen in ihm bewirkt hatte. Angutitaq hatte den Geist des Kindes, der ihn heimsuchte, gezähmt und den Fuchs zu seinem Verbündeten gemacht. Er hatte ihm beibringen wollen, eins mit dem Fuchs zu werden, doch Dafydd war dazu nicht bereit gewesen. Aber der kleine Fuchsgeist war immer noch da; er schwebte am Rande seines Bewusstseins und wünschte, dass er still war. Wenn er still gewesen wäre und zugehört hätte, hätte er vielleicht gemerkt, dass jemand auf ihn wartete und über die Ozeane nach ihm rief.
    Möglicherweise war es noch nicht zu spät dazuzulernen. Bei diesem Unterfangen gab es keinen Platz für seinen anhaltenden Groll. Dafydd gab seine Bitterkeit auf. Er spähte ins Feuer und beobachtete, wie sie verbrannte; fühlte, wie sie zu Asche zerfiel.
    »Ja, dein Vater war ein wirklicher angatkuq«, sagte er schließlich. »Ich habe etwas von seinem Wissen erhalten. Allerdings glaube ich, dass ich zu jung war, um es zu verstehen … oder vielleicht einfach unfähig.«
    »Aber achtest du das Wissen? Glaubst du daran?«, fragte sie recht streng trotz ihrer Tränen.
    »Ja, das tue ich«, antwortete er. »Ich will es in mir selbst finden. Hier zu sein hilft mir dabei. Zumindest erinnert es mich daran, was mir möglich ist und was nicht.«
    Ihr Gesicht wurde sanft, und sie lachte. »Auch ich muss daran erinnert werden.«
    »Stimmt.« Er nahm ihre rechte Hand in seine und betrachtete sie eingehend. Mit den Spitzen seiner lädierten Finger strich er über die Schnitte und Schwielen der Schnitzerin. »Guck dir nur diese Hand an. Sie ist ramponiert; sogar stärker mitgenommen als meine.«
    »Nimm mir mein Schweigen nicht übel, Dafydd. Ich habe, wie du weißt, einen schrecklichen Preis dafür bezahlt.«
    Dafydd
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