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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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deutlich, dass sich der Junge mitten im Stimmbruch befand. Der sich mit einem piepsenden Falsett abwechselnde vibrierende Bass löste in Dafydd den Wunsch aus, hysterisch loszulachen – einen Wunsch, der mit einer beängstigenden Zärtlichkeit verbunden war.
    »Hab ich dir je erzählt, dass ich Gitarre spiele?«, fragte er.
    Sie blickte von ihrer Arbeit auf und schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Ein sehr merkwürdiges Zusammentreffen, oder was meinst du?«
    Mit amüsierter Miene wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, und beide lauschten, manchmal lächelnd, manchmal zusammenfahrend. Ein plötzlicher verärgerter Ausruf, und mit einem letzten widerhallenden Ton verstummte die Gitarre. Ach, welche Frustration – wie gut er das Gefühl kannte.
    Nachdem es wieder still geworden war, wanderte sein Blick zurück zu dem Stichel, der in einer sanften, schwingenden Bewegung über den ovalen Stein glitt. Uyarasuqs Finger führten ihn mit der in vielen Jahren erworbenen Praxis und mit unendlicher Geduld, als hätte sie keine Vorstellung von der Zeit und als wäre es ihr gleichgültig, wie lange es dauerte, das Instrument zu schärfen.
    Dafydd sehnte sich danach, zu seinem Sohn zu gehen und mit ihm zu sprechen, sich sein Zimmer anzuschauen, auf seiner Gitarre zu spielen und seiner halb kindlichen, halb männlichen Stimme zuzuhören. Aber es gab noch Fragen, auf die er Antworten benötigte. Als er die Stille durchbrach, klang seine Stimme schärfer als beabsichtigt und ließ Uyarasuq zusammenfahren.
    »Warum hast du es mich nicht wissen lassen? Ich habe dir mehrere Briefe geschrieben. Du hast nie auch nur ihren Empfang bestätigt.«
    Ohne zu antworten, legte sie das Gerät nieder und wickelte den Stein in das Leder. Sie stand auf, trat ans Fenster und blickte eine Weile hinaus. Milliarden Sterne funkelten an der sich verfinsternden Himmelskuppel.
    »Ich fand, dass es nicht richtig wäre. Du wolltest nicht, dass es geschah«, sagte sie nach einer Weile und drehte sich zu ihm um. »Schließlich hast du Vorkehrungen getroffen.« Sie errötete und versuchte bei der Erinnerung an seine Vorkehrungen ein Lächeln zu unterdrücken.
    »Ich hätte es wirklich wissen wollen«, beharrte er. »Warum hast du mir nicht vertraut? Ich hätte dir geholfen, hätte alles getan und arrangiert …«
    »Genau das ist es«, unterbrach sie ihn mit gerunzelter Stirn. »Ich wollte nicht, dass irgendetwas ›arrangiert‹ wird. Sobald ich merkte, dass ich schwanger war, hat sich mein Leben verändert. Ich wollte das Baby haben. Es gab plötzlich für mich noch eine zusätzliche Aufgabe, während ich meinen Vater während seiner letzten Lebensjahre betreute. Er hat noch erlebt, wie sein Enkel zu laufen und zu sprechen begann, und das erfüllte sein letztes Jahr mit Freude. Schon allein deswegen hat sich alles gelohnt.«
    »So habe ich es nicht gemeint«, sagte Dafydd betrübt. »Ich habe gemeint, dass ich dir in jeder von dir gewünschten Weise geholfen hätte. Ich hätte meinen wunderbaren Sohn auch gern aufwachsen sehen.« Er spürte, wie das beengende Gefühl in seiner Brust zurückkehrte, und schluckte mehrmals. Die durch die Begegnung ausgelösten Emotionen ließen sich kaum vor ihr verbergen. Er fragte sich, ob er alles hinter sich gelassen hätte, um zu der Frau zurückzukehren, die seinen Sohn in sich trug. Wahrscheinlich nicht. Es wäre solch ein Wagnis gewesen, sich in ein völlig fremdes Umfeld zu begeben. Aber es gab keine Möglichkeit herauszufinden, wie er sich gefühlt und entschieden hätte. Immerhin hatte er sie geliebt und zutiefst vermisst.
    Sie bemerkte seinen Kummer und setzte sich wieder neben ihn. Zart berührte sie seine Wange. »Es tut mir sehr leid, Dafydd. Ich fand, es wäre schrecklich unfair gewesen, dich so unter Druck zu setzen. Und ich wollte selbst die Verantwortung dafür übernehmen.«
    »Bestimmt hättest du meine Unterstützung brauchen können.«
    »Mein Vater war alt, aber er war für mich da. Er hat mich unterstützt. Er hilft uns noch immer, von drüben.«
    Sie warf Dafydd einen Blick zu und suchte nach Anzeichen der Skepsis. Dann sagte sie leise, aber voller Überzeugung: »Mein Vater hat Charlie gerettet. Er wusste, wie man in den Körper von Tieren schlüpft, im Leben ebenso wie im Tode. Sein Geist hat Besitz von der Hündin ergriffen, die gegen den Bären gekämpft hat. Er und der Hund sind miteinander verschmolzen. Eines Tages wird Charlie dir das sicher alles selbst erzählen. Als mein Vater dachte, dass er
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