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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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gesagt.« Er senkte die Stimme und drohte ihm scherzhaft: »Ich komme wieder.« Dann schwenkte er sein Bein in einem anmutigen Bogen und kam durch die Verlagerung seines Gewichts zum Stehen. Grinsend meinte er: »Zumindest ist es ein gutes Gegengewicht und ein brauchbarer Türstopper, und man kann sich darauf was notieren.«
    Als Charlie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schien es, als wäre dem Raum eine wirbelnde Energie entzogen worden. Plötzlich wirkte er viel größer, wie ausgehöhlt. Dafydd blickte Uyarasuq an und lachte. Sie ahnte, was er fühlte, und lachte ebenfalls.
    »Wie kann ein so bemerkenswerter Mensch einem derart öden Boden entspringen?«, fragte Dafydd kopfschüttelnd.
    »Es gibt vieles, was du an diesem Boden nicht verstehst.«
    »Du hast recht«, lenkte er ein. »Diejenigen, die auf ihm leben, haben sicherlich nichts Ödes an sich.«
    Dafydd erhob sich und setzte sich neben Uyarasuq aufs Sofa. Schweigend betrachteten sie einander. Einen Moment lang wurde er von der Erinnerung an seine einstigen Gefühle überwältigt. Er bekämpfte den Drang, sie zu umarmen und an sich zu drücken, um ihr ein wenig von der Kraft zurückzugeben, die Charlies beinahe tödliche Heimsuchung ihr geraubt haben musste. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, ihr alles anzubieten, all seinen Besitz, seine Fürsorge und Zeit, aber ihm war klar, dass er sich zurückhalten musste und sie nicht mit einer Flut von Rührseligkeiten überschwemmen durfte. Dennoch musste er seine Empfindungen irgendwie zum Ausdruck bringen.
    »Ich glaube, dass es an dir liegt. Es hat nichts mit dem Land zu tun. Du hast ein außergewöhnliches Kind geschaffen. Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle zu beschreiben. Ich bin dankbar, bewegt, zutiefst beeindruckt …«
    Aus der Fassung gebracht, wandte Uyarasuq das Gesicht ab. »Na ja«, meinte sie verlegen, »du kennst ihn doch noch gar nicht. Und selbst wenn’s stimmt, glaube ich, dass du auch etwas damit zu tun hattest.«
    »Nicht viel.« Er atmete mehrmals tief durch. Seine Hände zitterten, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Um nicht in ein unerwünschtes Gefühlschaos auszubrechen, lehnte er sich zurück und suchte nach einem anderen Thema. »Erzähl mir etwas hierüber«, sagte er und wies auf den Raum.
    »Ah, das Haus«, erwiderte sie erfreut. »Das hat ein junger Architekt, den ich in Vancouver getroffen habe, als Gegenleistung für eine meiner Schnitzereien entworfen. Wir haben uns auf einer Vernissage kennen gelernt, und meine Arbeit gefiel ihm. Ich glaube, es war ein mehr als fairer Handel, zumal er mir auch noch einige Fördermittel für den Bau beschafft hat. Es ist der Prototyp für Häuser auf Permafrostböden, wie sie inzwischen an vielen Orten gebaut werden.«
    Dafydd fragte sich, wie viele Männer es seit Charlies Geburt in ihrem Leben gegeben haben mochte. Der junge Architekt musste ziemlich begeistert von ihr gewesen sein. Bei dem Gedanken verspürte er einen scharfen Stich, eine Art Eifersucht, weil er all die Jahre nichts über sie und ihren schönen Sohn erfahren hatte.
    In mancher Hinsicht hatte sie sich beträchtlich verändert. Sie war deutlich kultivierter und selbstbewusster geworden, nachdem sie etliche Reisen gemacht und viele Menschen kennen gelernt hatte. Außerdem bedeutete Geld Macht, Unabhängigkeit und Alternativen. Aber trotzdem war sie noch immer sie selbst. Ihr Wesen schien sich nicht gewandelt zu haben. Sie errötete noch immer leicht und lachte das schnelle, fröhliche Lachen ihres Vaters. Auch ihre natürliche weibliche Zurückhaltung, die ihn so angezogen hatte, war noch vorhanden.
    Sie hatte keine Angst vor dem Schweigen wie so viele Frauen in der schnelllebigen Welt. Während sich die Dämmerung vertiefte, saßen sie eine Weile in ihre eigenen Gedanken versunken da. Das Feuer, das sie in dem Gusseisenkamin angezündet hatte, hypnotisierte ihn. Er war durch die Ereignisse der vergangenen Tage erschöpft und döste kurz ein.
    Als er die Augen öffnete, hatte sie sich ein Stück Leder über die Knie gelegt und schärfte ein Schnitzinstrument an einem glatten ovalen Stein. Aus einem anderen Teil des Hauses drang das unbeholfene Klimpern einer Gitarre herüber, zu dem Charlie einen alten Dylan-Song sang. Dafydd saß reglos da und spitzte die Ohren. Er hatte das Lied selbst gespielt und gesungen, nicht lange bevor er seine Gitarre sowie das obere Glied seines Fingers verloren und einen Eid geleistet hatte, dass er nie wieder spielen werde. Man hörte
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