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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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hatten, kamen sie leichter voran. Schweigend schritten sie weiter. Charlie wies den Weg. Durch die Erschöpfung hinkte er stärker. Nach rund achthundert Metern blieb er stehen, um sich zu orientieren, dann wandte er sich etwa vierzig Grad westwärts, und sie gingen knapp dreihundert Meter weiter.
    »Hier ist es«, sagte Charlie plötzlich. »Hier ist die Stelle, an der sie mich gefunden haben.«
    Dafydd blickte sich auf der kahlen Fläche um. Er fühlte sich sehr verwundbar auf dem riesigen Nordmeer. Alle paar Sekunden grollte es wie Donner; das Eis senkte oder hob sich mit der Flut und ordnete sich wieder neu an. Ein Krachen wie das eines Gewehrschusses und das Zischen eines sich über das Eis ausbreitenden Risses erschreckten ihn. Charlie schenkte den Geräuschen keine Beachtung, und Dafydd bemühte sich, seinem Beispiel zu folgen. Aber die offene Fläche, das Fehlen von Schranken und eines Verstecks, in das man sich flüchten konnte, verstärkten sein Gefühl, verwundbar zu sein.
    Weiter draußen erhob sich eine große, eisbedeckte Insel, und die fernen Eisberge, fest von dem hartgefrorenen Meerwasser umschlossen, hatten trotz ihrer leuchtenden Schönheit etwas Bedrohliches. Hinter ihnen konnten sich unzählige Eisbären verbergen, die durch den langen, dunklen Winter ausgehungert waren und nach Beute suchten. Plötzlich überkam ihn das Entsetzen, das Charlie in seiner furchtbaren Notlage empfunden hatte, und er spürte einen überwältigenden Drang, den Jungen hochzuheben und mit ihm über das Eis davonzurennen.
    »Möchtest du mir davon erzählen?«, fragte er, um seine Panik zu verbergen. Er war entschlossen, Charlie die Führung zu überlassen. Schließlich war es der Junge, der zur Strecke gebracht und dessen Körper von dem riesigen weißen Bären zerfleischt worden war. Dafydd musste die Einzelheiten erfahren, aber dennoch fürchtete er sich vor dem Bericht seines Sohnes über den Kampf mit dem Tod.
    »Ich will es dir erzählen«, antwortete Charlie, »aber heute noch nicht. Heute haben wir uns einfach nur die Stelle angesehen, okay?«
    »Okay, Charlie. Aber wann immer du bereit bist, möchte ich davon hören – alles, was geschehen ist, jedes Detail.«
    »Ich habe keine Angst«, beeilte sich Charlie zu versichern. »Es wird mir nichts ausmachen, darüber zu reden, und ich habe auch keine Furcht, selbst wieder auf die Jagd zu gehen. Ich werde es tun, sobald ich meinem neuen Bein vertrauen kann.«
    »Wirklich?« Dafydd blickte ihn unbehaglich an. »Wie willst du dich schützen, falls … es wieder geschieht.«
    »Hunde«, sagte Charlie. »Ich werde mir ein gutes Team sibirischer Huskys besorgen, die stärksten Hunde der Welt.«
    »Ein guter Plan«, räumte Dafydd ein. Schließlich hatte ein einziger verletzter Hund ein großes Eisbärenmännchen abgewehrt und Charlie davor gerettet, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Ob die Hündin nun von Angutitaqs Geist durchdrungen war oder nicht, sie hatte ihren eigenen Tod so lange hinausgezögert, bis der Bär aufgab. Sie hatte ihr Leben für ihren Herrn geopfert. Wahrscheinlich war der Bär noch immer dort draußen und erinnerte sich an die Huskyhündin, die ihm die Sehnen der Hinterbeine aufgerissen hatte.
    »Aber kein Hund wird den einen ersetzen, der mich gerettet hat«, sagte Charlie. »Ich würde mein anderes Bein opfern, wenn ich sie zurückhaben könnte.«
    Dafydd nickte. Er dachte an Thorn, der versucht hatte, ihm den Weg zu seinem sterbenden Herrn zu zeigen. Der beste Freund des Menschen, unentbehrlich in diesem unwirtlichen und gefährlichen Land.
    »Aber ich werde nie einen Bären jagen«, fügte Charlie hinzu. »Überhaupt glaube ich nicht, dass ich wirklich irgendein Lebewesen töten will. Es sei denn, ich bin am Verhungern. Wie der Bär. Wenn du essen musst, musst du essen.« Er lachte. »Ob du’s mir glaubst oder nicht, ich nehme es ihm nicht übel.«
    Ein Wind erhob sich, und kleine Schneekörner wirbelten um ihre Knöchel. Sie blieben noch einen Moment stehen, und Dafydd hatte den Arm um die Schultern seines Sohnes gelegt. Doch mit dem Wind drang die Kälte schnell durch ihre Kleidung und ließ ihr Fleisch gefühllos werden.
    So gut sie konnten, eilten sie zum Ufer. Jetzt ließ Charlie es zu, dass Dafydd ihm über die schlimmsten Eisblöcke half, wobei es schwierig war, die in dicken Handschuhen steckenden Hände des anderen zu ergreifen. Während sie schweigend über das aufgetürmte Eis kletterten, zeigte Charlies Gesicht eine
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