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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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Alkohol und hüllte seinen Körper in eine Wolke giftiger Ausdünstungen, obwohl er versucht hatte, sich herzurichten. Er war frisch rasiert, und er hatte sein langes schwarzes Haar, das feucht und glatt war, aus der breiten, finsteren Stirn zurückgekämmt.
    »Sind Sie so weit?«, fragte Baptiste mit müder, monotoner Stimme. Sie gingen zu seinem Kleintransporter, um die acht Kilometer bis zum Flugplatz zu fahren. »Es kostet siebenhundert Dollar, wenn’s Ihnen recht ist«, sagte er, »pro Strecke.«
    »Gut«, meinte Dafydd, der keine Ahnung von den üblichen Preisen hatte. »Aber ich bleibe vielleicht ein oder zwei Tage.«
    »Ich kann warten, solange ich eine Unterkunft habe«, versicherte der große Mann. »Herrscht in dem Ort Alkoholverbot?«
    »Ich glaube, ja«, antwortete Dafydd, glücklich bei der Vorstellung, wenigstens eine Strecke von einem nüchternen Piloten geflogen zu werden. »Bei meinem letzten Besuch war es so. Aber das ist viele Jahre her.«
    Der Flug wurde in die wenigen Stunden gelegt, in denen Tageslicht herrschte. Was die Kondition des Piloten betraf, so reichte sie offenbar für seine Tätigkeit aus. Er war sehr erfahren. Allerdings bereitete es ihm große Freude, sich vor Dafydd damit zu brüsten, dass er in der gesamten westlichen Arktis für das Bravourstück bekannt sei, drei Flugzeuge zu Schrott geflogen und trotzdem überlebt zu haben.
    Dafydd vergaß seine Flugangst fast völlig, als sie so tief hinuntergingen, dass er deutlich einzelne Bären, Elche und Karibuherden erkennen konnte, die, durch den Lärm des Flugzeugs aufgeschreckt, querfeldein rannten. Der Wald wurde immer spärlicher, die Bäume an den Ufern gefrorener Flüsse kürzer und dünner. Schließlich überquerten sie die öde Tundra, die sich scheinbar Hunderte von Kilometern dahinzog, so fach und schmucklos wie nichts anderes auf der Welt. Die einzigen Lebewesen, die sich darauf befanden, waren etwa zehn Moschusochsen, die vor dem grollenden Motor der Cherokee flohen. Sie drängten sich im Laufen dicht aneinander, und ihr zottiges Deckhaar umwogte sie in anmutigen, langsamen Bewegungen. Noch ein Stück weiter, am Rand des Nordpolarmeers, tapste ein einzelner Eisbär durch die riesige Weite des blendenden Schnees.
    Black River sah anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Einige der alten viereckigen Behausungen gab es noch immer, aber man hatte viele neue Häuser gebaut und durch ein merkwürdiges Netzwerk aus Kanälen oder Passagen miteinander verbunden, offensichtlich Versorgungsleitungen. Der Turm der weißen, mit Schindeln gedeckten Kirche ragte noch immer als einziges Gebäude in den Himmel. Daran war jetzt irgendein hässlicher Übertragungsmast befestigt.
    Baptiste umkreiste die Siedlung und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Also, das ist der einzige Ort, den ich noch nie gesehen habe«, gab er zu, nachdem er Dafydd gegenüber behauptet hatte, er kenne von Dawson City bis Churchill jede Stadt, jedes Dorf und jede Siedlung.
    Als Baptiste seine Maschine gekonnt auf eine kaum erkennbare Rollbahn hinabsenkte, überkamen Dafydd plötzlich Angstgefühle, und er spürte ein heftiges Kribbeln im Bauch. Seine weite Reise seit dem jetzt fern erscheinenden Morgen, an dem er Mirandas Brief erhalten hatte, führte ihn in ungeahnte Bereiche sowohl seines Bewusstseins als auch seines Körpers – in Situationen, die er sich nur ein paar Monate zuvor nicht einmal hätte vorstellen können. Hier, am Rand des gefrorenen Meeres, umgeben von bläulich schillernden Eisbergen, wohin im Winter kaum Tageslicht drang, hatte er ein Kind, einen Sohn, der mehr Gefahren erlebt und mehr Schmerzen erduldet hatte als er selbst in seinem ganzen Leben; ein junger Mann der Wildnis, ein eingeborener Inuit-Jäger.
    Uyarasuq und Charlie warteten auf ihn. Sie hatten mit ihm gerechnet, das Flugzeug in der Ferne gesehen oder gehört und waren zur Rollbahn geeilt. Dafydd sprang aus der Maschine und rannte zu ihnen. Aber dann stellte er fest, dass ihm die Worte fehlten. Die drei standen da und musterten einander wortlos; es schien keine Eile für Begrüßungen oder Erklärungen zu bestehen. Schließlich trat Dafydd auf Uyarasuq zu und umarmte sie kurz, dann schüttelte er den Handschuh des Jungen mit seiner eigenen bandagierten Hand.
    Charlie war ein gut entwickelter, für sein Alter großer junger Mann. Dafydd entdeckte sofort etwas von sich selbst in dem überraschend attraktiven Gesicht, eine undefinierbare Ähnlichkeit des Wesens. Seine Augen waren die
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