Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
Vom Netzwerk:
seiner Mutter, schwarz und ein wenig orientalisch, ebenso seine hohen Wangenknochen. Aber Mund und Stirn hatte er von Dafydd geerbt. Sein Haar war dunkel wie die Nacht, aber an den Schläfen auf eine Weise gekräuselt, wie sie nur Dafydd kannte. Als er plötzlich grinste, lächelte Dafydd in sofortigem Erkennen zurück. Alle Zweifel waren zerstreut. Dies war sein Sohn.
    Nachdem sie Baptiste mitgeteilt hatten, wo er ein Zimmer mieten könne, gingen sie langsam zu ihrem eigenen Haus. Charlie hatte den stämmigen Körper des Volkes seiner Mutter, aber dazu Dafydds Größe. Er sah beeindruckend, ja unschlagbar in seiner Entschlossenheit aus, seine furchtbare Behinderung herunterzuspielen, auch wenn er hinkte und einen Stock benutzte. In sich selbst ruhend, richtete er alle Konzentration auf seine Schritte. Ab und zu warf er Dafydd einen Blick zu und nickte, als wolle er ihn beruhigen, dass alles in Ordnung sei. Dafydd nickte zustimmend zurück und versuchte, den Jungen nicht anzustarren, aber er konnte seine Faszination nicht unterdrücken und musterte beide verstohlen.
    Uyarasuqs winterliche Blässe spiegelte das Eis und den Schnee ihres Landes wider. Beide Wangen wiesen einen münzgroßen roten Fleck auf, die Folge davon, dass die Spitzen ihrer vorstehenden Wangenknochen einmal zu oft gefroren waren. Aus der Nähe bemerkte er das Gefecht winziger geplatzter Kapillaren, aber aus der Entfernung glichen sie Rouge, aufgetragen von der Hand eines Kindes. In Dafydds Welt konnten solche Male rasch per Laser entfernt werden, aber Uyarasuq wusste vielleicht nicht, dass es diese Behandlungsmöglichkeit gab, oder sie machte sich keine Gedanken über die Spuren ihres harten Lebens.
    Ihr Haar war jetzt sehr lang, noch immer dick und rau wie ein Pferdeschweif. Es fiel wie ein glänzender schwarzer Fluss unter ihrer gestrickten Wollmütze bis weit über ihre Taille hinab. In jeder anderen Beziehung war ihr Äußeres unverändert, scheinbar zeitlos. Ihr Gesicht war glatt wie das eines Teenagers, ihre Zähne strahlend weiß wie der Schnee. Nur ihre Kleidung war anders geworden. Sie trug eine elegante Wollhose und einen aufwendig bestickten weißen Wollparka mit einem Saum aus weichem weißem Fell – geradezu ein Kunstwerk. Dazu teuer wirkende, zueinander passende Handschuhe und Stiefel, zweifellos handgemacht.
    Unterwegs stießen sie auf keinen anderen Einwohner. Allerdings zuckten in der Reihe identischer Häuser deutlich ein paar Gardinen. Dafydd stellte sich mit einigem Bangen vor, dass sie in dem Einzimmerhaus wohnten, wo er seine leidenschaftlichste Begegnung erlebt hatte und wo sein Sohn gezeugt worden war. Aber nein, sie musste das Haus ihres Vaters geerbt haben.
    Keine seiner Vermutungen traf zu. Am Rande des Dorfes stand ein Haus auf Stahlpfeilern, die offenbar tief in den Boden getrieben worden waren. An zwei Seiten hatte es große Fenster, und aus einem zylindrischen Metallschornstein stieg senkrecht Rauch empor. Dafydd ging die geschwungene Treppe zur Haustür hinauf. Er war fasziniert von der ungewöhnlichen Gestaltung.
    Uyarasuq lächelte ihn an. »Erzähl mir nicht, dass du vergessen hast, wie mein Haus aussieht«, neckte sie ihn.
    »Du hast es ein bisschen herausgeputzt«, erwiderte er und fragte sich, was für ein Vermögen Bear dem Enkel seines Freundes vermacht hatte, dem einzigen Sohn seines unglückseligen Arztes. Nicht viel, wenn man Josephs Worten Glauben schenken konnte. Die Hälfte von fast nichts.
    Während Uyarasuq ihrem Sohn half, seinen Mantel und seine Stiefel auszuziehen, schaute sich Dafydd in dem Open-Plan-Wohnzimmer um und versuchte, nicht neugierig zu wirken. Anscheinend mangelte es den beiden an nichts. Das Haus war spärlich und schlicht möbliert, aber mit den neuesten technischen Geräten ausgestattet. Überall standen Steinschnitzereien. Sie waren größer und kraftvoller als die, welche Dafydd damals gesehen hatte. Und sie waren finsterer, manche geradezu furchterregend.
    »Dieses Haus stammt nicht aus dem Vermächtnis meines Vaters, falls du dich wundern solltest«, erklärte Uyarasuq stolz, als sie seinen prüfenden Blick bemerkte. »Ich habe es auch nicht mit dem Geld gekauft, das Charlie von Bear geerbt hat. Das habe ich für seine Ausbildung zur Seite gelegt.«
    Er zog seinen Parka aus, setzte sich auf einen geschnitzten Holzstuhl und blickte sie an. Sie stand mit gekreuzten Armen vor ihm. Er wollte über den kindlichen Trotz ihrer Körperhaltung lächeln, aber es gelang ihm nicht.
    »Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher