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Finale auf Föhr

Finale auf Föhr

Titel: Finale auf Föhr
Autoren: Martin dodenhoeft
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Wattwanderung
    Missmutig setzte Carl von Brandes seinen rechten Fuß ins knöcheltiefe Wasser, dann den linken. Prompt auf einen scharfkantigen Muschelrest. Gerade noch unterdrückte er einen Aufschrei. Zu peinlich. »Sag mal, Reni«, setzte er an.
    Renata von Brandes tat, als hörte sie nichts. Sie war nicht autoritätshörig, war sie noch nie gewesen, und auf den Namen Reni hörte sie schon gar nicht. Und ihr Mann flößte ihr wenig Respekt ein. Jedenfalls keinen Respekt im Sinne von ehrfurchtsvoller Anbetung. Autorität im klassischen Sinne hatte er vielleicht im Verlag, bei den Druckereien, bei den Autoren und vor allem den Autorinnen. Ja, ja, er konnte durchaus charmant sein, manchmal definitiv zu charmant. Früher war er zurückhaltender gewesen. Da hatte sie weniger aufpassen müssen. Aber diese Art von Autorität verflüchtigt sich schnell, wenn man jeden Tag die Unterhosen eines Mannes wäscht. Oder jedenfalls weiß, dass die Haushaltshilfe das macht. Ob die jetzt eigentlich die Gardinen ...
    Reni! Das ging zu weit. Tante Reni war die Person, die auf ihrer persönlichen Rangliste der unbeliebtesten Menschen Deutschlands noch weit über verschiedenen machtbesessenen politischen Wendehälsen aller Couleur anzusiedeln war. Reni sagte Carl immer zu ihr, wenn er sie ärgern wollte. Ging sie darauf ein, würde sie unweigerlich eine Debatte über ihre Familie im Allgemeinen und Tante Reni im Besonderen entfachen. Carl mochte Reni, aus einem unerfindlichen Grund. Nein, diesen herrlichen Urlaubsmorgen würde sie sich nicht mit solchen Diskussionen verderben lassen.
    Brüsk wandte sie sich ab und schloss dichter zur Gruppe auf. Etwa 40, 50 Leute – überwiegend Pärchen wie sie und Carl, einige mit Kindern – schlurften und platschten durch das knöcheltiefe Wasser am Dunsumer Deich hinter dem Wattführer her. Schon am frühen Morgen strahlte Hans-Jürgen Hansen eine geradezu penetrante Fröhlichkeit aus. Ein kleiner, drahtiger Mann, Mittsiebziger, wenn nicht älter. Die Haut tiefbraun, aber recht zerknittert, der war ja immer draußen. Ziemlich dünne Beine, sehnig, Typ Marathonläufer. Carl würde später nicht so aussehen. Der erste Rettungsring war schon in Sicht, ha!
    Mit seiner angenehm tiefen Stimme verkündete der Wattführer gerade, was allerdings jeder wusste: Sylt zur Rechten, Amrum zur Linken! Viel war ja eigentlich nicht zu sehen. Hinter dem in der frühen Morgensonne glitzernden nassen Watt erhoben sich flache, hellbraun-grünliche Dünenketten mit hellerem Saum. Die Häuser von Hörnum auf Sylt. In der Ferne im Nordosten konnte man sogar Hochhäuser sehen, hässlich in die Gegend geklotzte Quader. Sah aus, als stünden die direkt im Wasser. Wo standen die noch? Kampen, Westerland? Trotz des morgendlichen Dunstes war auch der Amrumer Leuchtturm gut zu erkennen. Renata atmete tief ein. Was hier zählte, war Himmel, weiter, endloser, hellblauer Himmel, Wasser und die gute Seeluft.
    Der Wattführer dozierte fröhlich weiter: Entstehung der einzigartigen Landschaft durch Ebbe und Flut. Ökologisch ganz besonderer Lebensraum für zahlreiche Tiere. Wattwürmer – nachher wollte er einen ausgraben. Bäh. Kein Bedarf. Immer bei den anderen bleiben! Nur in der Gruppe übers Watt nach Amrum gehen, nur mit erfahrenem Wattführer! Vor Jahren sei eine ganze Gruppe wegen eines unerfahrenen Amateurs in Gefahr geraten, man habe sie in letzter Sekunde gerettet! Und auch vor Kurzem sei wieder ein Einzel-Wattwanderer spurlos verschwunden!
    Carl, erneut: »Sag mal, Liebes« – schon besser! – »ist dir klar, dass wir zu Urlaubsbeginn diese Wanderung zu einer zivilen Zeit machen konnten?«
    Was sollte das jetzt? Es stimmte zwar, dass sie unbedingt heute gehen wollte, weil es ihr an anderen Tagen halt nicht so gut gepasst hatte. Aber warum das zugeben? Sie zögerte kurz und griff dann auf das probate Mittel der Retourkutsche zurück. Wessen zahlreiche Aktivitäten in der Vorwoche waren ebenfalls stets wichtiger als die traditionelle Wattwanderung nach Amrum gewesen? Einschließlich des Vormittags, den er damit verbracht hatte, sein kostbares Auto von Möwenklecksen zu befreien und auf Hochglanz zu polieren.
    Doch Renata wusste: Hier und jetzt, an diesem herrlichen, über dem Watt noch kühlen Sommermorgen, war wieder einer der kleinen Entscheidungsmomente im Leben, eine der Gabelungen erreicht, wenn auch eine der unbedeutenderen. Nichts im Vergleich zu damals, als sie sich zwischen Carl und Heinz-Martin entscheiden
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