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Zahltag

Zahltag

Titel: Zahltag
Autoren: Petros Markaris
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Menschenmenge, die vor dem Parlament
Politiker beschimpft. In den meisten Fällen wissen wir es selbst nicht. Wir
beziehen unsere Posten und warten ab, was auf uns zukommt.«
    In der Rizari-Straße schaltet der Fahrer die Sirene ein. Der
Vassilissis-Sofias-Boulevard ist in beide [30]  Fahrtrichtungen gesperrt. In null
Komma nichts haben wir ihn hinter uns gelassen und erreichen die
Panepistimiou-Straße. Banken und Geschäfte haben die Rollläden heruntergelassen,
die Straße ist menschenleer. Das Bild erinnert mich an den Militärputsch vom
21. April 1967. Nur dass keine Panzer über die Straßen rollen.
    Erst nach der Kreuzung mit der Patission-Straße belebt sich der
Verkehr wieder, gleichzeitig dringt vom Polytechnikum her der Widerhall von
Parolen zu uns herüber. Als wir den Omonia-Platz erreichen, herrscht plötzlich
ein ganz anderes Klima, die Wüste Sahara ist übergangslos zum
Amazonas-Dschungel geworden. Wagen stehen dicht an dicht auf dem Platz, die
Fahrer auf der Suche nach einem Ausweg hinter ihrem Lenkrad hupen wie besessen.
Ein paar verirrte Touristen stehen mit ihrem Gepäck mitten auf dem Platz, den
schreckerfüllten Blick auf das Chaos gerichtet. Offenbar ist es ihnen unbegreiflich,
wie sie plötzlich im Dschungel landen konnten, wo sie doch auf die Kykladen
wollten.
    »Deutsche wahrscheinlich«, meint der Fahrer.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Franzosen und Italiener sind so etwas eher gewohnt. Deutsche
reagieren da schnell schockiert und kriegen Angst vor uns. Sie haben noch nicht
kapiert, dass wir keine Ausländer überfallen, sondern uns nur gegenseitig an
die Gurgel gehen.«
    Der junge Kollege ist ein gewandter Autofahrer. Unter wohldosiertem
Einsatz der Sirene manövriert er uns geschickt durch den Verkehr. Schließlich
gelingt es uns, über die Pireos-Straße bis zur Ajia-Triada-Kirche vorzudringen
und gegenüber einen Parkplatz zu finden. Vlassopoulos und [31]  Dermitsakis, meine
beiden Assistenten, erwarten mich bereits am Eingang zur Ausgrabungsstätte.
    »Kommen Sie, kommen Sie!«, ruft mir Dermitsakis übereifrig und mit
einem breiten Lächeln im Gesicht entgegen.
    »Seit wann seid ihr Workaholics?«, frage ich mit genervtem Unterton.
    »Arbeit ist das halbe Leben«, bemerkt Vlassopoulos, obwohl der
Spruch nicht zur Umgebung passt.
    Der Tote liegt circa hundert Meter entfernt in der Nähe einer
Grabstele, auf der eine sitzende Frau von einer aufrecht stehenden Figur eine
Schatulle in Empfang nimmt. Die Leiche befindet sich nicht genau am Fuß der
Grabstele, sondern ein Stückchen weiter links auf einer kleinen Lichtung. Im
Hintergrund schwanken ein paar Zypressen im Wind.
    Der Mann ist zwischen fünfzig und sechzig, trägt einen teuren
dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. Auf seiner Nase
sitzt eine Brille mit filigraner Fassung, und seine Wangen bedeckt ein dichter
grauer Vollbart.
    Am ungewöhnlichsten ist jedoch seine Körperhaltung. Er liegt auf dem
Rücken, die Arme vor der Brust gekreuzt und die Lider geschlossen, als hätte
ihn jemand zur Bestattung aufgebahrt. Es fehlen nur der Sarg und das frisch
geschaufelte Grab.
    »Wer hat ihn gefunden?«, frage ich Vlassopoulos.
    »Einer der Antikenwärter. Der war ganz zufällig so früh da. Er hatte
nämlich am Vorabend, als er nach Hause kam, bemerkt, dass er sein Handy nicht
dabeihatte. Da er vermutete, es bei der Arbeit verloren zu haben, kam er früher
als sonst hierher und hat dabei die Leiche entdeckt.«
    »Wissen wir schon, wer es ist?«
    [32]  Vlassopoulos zuckt mit den Schultern. »Ich wollte ihn schon
durchsuchen, aber dafür hätte ich ihn von der Stelle bewegen müssen. Da dachte
ich mir, ich warte lieber auf die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung.«
    »Vielleicht war es auch Selbstmord«, mutmaßt Dermitsakis.
    »Also hör mal! Meinst du wirklich, jemand zieht sich todschick an,
legt sich unter die Grabstele, verschränkt die Arme und bringt sich um?«
    »Hast du vielleicht schon mal so einen Selbstmörder gesehen?«, setzt
nun auch Vlassopoulos nach.
    »Na klar, und zwar hatte er sich vergiftet«, erwidert Dermitsakis
pikiert.
    »Wenn er sich tatsächlich umgebracht hat, müsste die Spurensicherung
irgendein Giftfläschchen oder etwas Ähnliches in seiner Nähe finden«, entgegne
ich ihm.
    Man kann es nicht von vornherein ausschließen, dass sich erst vier
Frauen mit Schlaftabletten umbringen und wenig später ein Mann mit Gift. Doch
mich beschäftigt ein anderer Gedanke: Wenn es sich doch um
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