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Zahltag

Zahltag

Titel: Zahltag
Autoren: Petros Markaris
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erklärt mir Adriani. »Dort ist die Lage auch
nicht gerade rosig.«
    »Ja, aber wie diszipliniert man dort reagiert!«, mischt sich die
Lykomitrou ein. »Auch die Briten mussten Kürzungen, [23]  Entlassungen und
Einschnitte über sich ergehen lassen. Aber Sie sollten sehen, wie gefasst die
Leute das hinnehmen. Nicht so wie unsere Empörten, die Athen kurz und klein
schlagen. Auch die Briten sind empört, aber so etwas machen sie nicht.«
    Sie ist der klassische Fall der Griechin, die meint, nur weil ihr
Sohn in London lebt, im falschen Land auf die Welt gekommen zu sein. Mit
Kommentaren halte ich mich lieber zurück, weil sie mir sonst als Nächstes das
griechische Bürgerschutzministerium mit Scotland Yard vergleicht. Doch die
Lykomitrou ist entschlossen, mir durch das mustergültige Verhalten der Briten
den Rest zu geben. »Können Sie sich vorstellen, was in England los wäre, wenn
irgendwelche Krawallmacher auf dem Trafalgar Square oder in der Oxford Street
randalieren würden, so wie bei uns auf dem Syntagma-Platz und in der Stadiou-Straße?
Genau das fragt mich auch meine Schwiegertochter: ›Was wäre dann, Mama?‹ Und
ich kann ihr keine Antwort geben. Entschuldigen Sie, Herr Charitos, wenn ich
das so sage, aber sind Ihre Kollegen nicht in der Lage, auf dreißig
Quadratmetern mit fünfzig Radaubrüdern fertig zu werden?«
    Adriani wirft mir einen Blick zu, doch ich bin fest entschlossen,
mich nicht auf eine Diskussion einzulassen. »Was meine Kollegen bei
Demonstrationen machen, kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich nicht dabei bin,
Frau Lykomitrou. Ich habe bloß die Leichen am Hals.«
    Die Lykomitrou bekreuzigt sich, Adriani hingegen ist an solche
Sprüche gewöhnt und benötigt keinen Abwehrzauber.
    »Du magst eine löbliche Ausnahme sein, aber die [24]  anderen
Polizisten bauen nur Mist«, kommentiert sie und verspritzt mit verächtlicher Miene
das Gift, das sie immer griffbereit hat, wenn es um meine Kollegen geht.
    »Seit wann bist du denn so dick mit der Lykomitrou befreundet?«,
frage ich, als wir wieder allein sind.
    »Weißt du noch, als sich letztes Jahr der Mann von gegenüber aus dem
Fenster gestürzt hat? Areti kam jeden Tag zu mir hoch und hat mir Gesellschaft
geleistet. Sie war mir eine große Stütze. Das hat uns zusammengeschweißt.«
    Daran kann ich mich so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen.
Adriani hatte mit ansehen müssen, wie ein Nachbar aus dem Fenster sprang.
Danach war sie fix und fertig. Es dauerte Tage, bis sie sich von dem Schock erholte.
    »Also, mir ist Aretis Gesellschaft lieber, als vor dem Fernseher zu
hocken. Dort hört man nur noch, dass wir dem Untergang geweiht sind. All die
schlimmen Nachrichten ertrage ich einfach nicht mehr.«
    Ihre Worte hindern mich daran, auf den Einschaltknopf zu drücken.
Höchstwahrscheinlich berichtet man gerade über den vierfachen Selbstmord, zeigt
die Krankenwagen, die weinenden Frauen auf der Straße und den üblichen als
Nachtisch servierten Cocktail: die Reporter, die Streitgespräche zwischen den
Kommentatoren in den verschiedenen Bildschirmfensterchen, die Aufklärungswut
der TV -Moderatorinnen, die Analysen von
Finanzexperten und Psychologen. Zum Schluss wäre dann Adriani mit den Nerven am
Ende, und ich würde beim Dimitrakos-Lexikon Zuflucht suchen.
    Da kann ich auch gleich nach dem Wörterbuch greifen. So trete ich
ins Schlafzimmer, lege mich mit dem Dimitrakos aufs Bett und schlage beim
Eintrag »Selbstmord« nach.
    [25]  Selbstmord, der: das
Sich-selbst-Töten; vorsätzliche Auslöschung des eigenen Lebens. (geh.):
Selbstentleibung;
    (bildungsspr.): Suizid; (verhüll.): Freitod;
(Amtsspr.): Selbsttötung; versuchter S.; erweiterter S. (Rechtsspr.: S., bei
dem jmd. noch eine od. mehrere Personen tötet); S. begehen; jmdn. in den/zum S.
treiben; mit S. drohen; seine Aussagen kamen einem politischen S. gleich (er
hat sich durch seine Aussagen als Politiker disqualifiziert).
    Früher hatte der Dimitrakos stets die richtige Antwort auf jede
meiner Fragen parat. In der letzten Zeit bringt er mich jedoch immer wieder in
Verlegenheit. Ich versuche, den Selbstmord der vier Rentnerinnen irgendwo einzuordnen,
doch weder der »Freitod« noch die »Selbstentleibung« scheinen der treffende
Ausdruck zu sein. Auch der »erweiterte Selbstmord« will zu diesem Fall nicht
passen, obwohl mehrere Personen betroffen sind. Wenn man es genau nimmt, sind
sie weder freiwillig aus dem Leben geschieden, noch haben sie den Tod gesucht,
noch ihr
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