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Zaehme mich

Zaehme mich

Titel: Zaehme mich
Autoren: Emily Maguire
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waren nicht aus besonderer Zuneigung befreundet, sondern wegen ihrer Lebensumstände: Nicht befreundet zu sein hätte eine deutliche Entscheidung verlangt, zu der sich beide nur aus echtem Widerwillen voreinander hätten durchringen können. Doch selbst wenn sie sich schon seit hundert Jahren gekannt hätten, würde Sarah Jess nie etwas über Mr. Carr erzählen. Jess kicherte, wenn sie das Wort
    »Penis« hörte, und bei »Vagina« verzog sie das Gesicht.
    Lyrik fand sie langweilig, und Mr. Carr war nur eine Nervensäge für sie, weil er sie in der Schule damit belästigte.
    Jess war Sarahs älteste Freundin, doch ihr bester Freund war Jamie Wilkes, den sie erst seit zweieinhalb Jahren kannte. Sie waren sich am ersten Tag an der Highschool begegnet, in der ersten Unterrichtsstunde – Geografie. Die Schüler saßen in alphabetischer Reihenfolge an hufeisenförmig aufgestellten Tischen, was bedeutete, dass Clark direkt gegenüber von Wilkes landete – beide am zweiten Platz von der Vorderseite des Klassenzimmers aus, nur Burton und Yates noch zwischen ihnen und der Wand. Der Lehrer forderte sie auf, geradeaus zu schauen, während die Schulaufgaben für das Jahr vergeben wurden.
    So mussten sich Jamie und Sarah zehn Minuten lang durch das Klassenzimmer ansehen. Jamies Blick schweifte immer wieder ab – auf seinen Schreibtisch oder über die Schulter –, doch er kehrte auch immer wieder zu Sarah zurück. Sie lächelte ihn an, er sah nach unten, dann wieder nach oben und erwiderte ihr Lächeln. Nach der Verteilung der Aufgaben sagte ihnen der Lehrer, dass sie sich mit der ersten jeweils zu zweit beschäftigen sollten. Da Sarah niemanden kannte, hob sie ihre Augenbraue in Jamies Richtung, der errötend nickte. Sie stellten fest, dass sie gut zusammenarbeiteten und die gleiche Art von Humor hatten. Außerdem war Jamie, der klein, mager und asthmatisch war, für den schüchternen Bücherwurm Sarah ein natürlicher Verbündeter. Gemeinsam richteten sie sich ihr Außenseiterdasein in der Klasse ein und waren glücklich dabei.
    Jamie reagierte empfindlich auf Sonne, Wind, Pollen und Gras. Und auf Sarah. Er wachte genau über jeden Atemzug und jede Laune von ihr, und jetzt, da sich all ihre Atemzüge und Launen um Mr. Carr drehten, wusste Jamie, dass etwas mit ihr los war.
    »Fehlt dir was?«, fragte er sie, als sie am Dienstag der sechsten Woche ihrer Affäre mit Mr. Carr die Schule betrat.
    »Mir ist es noch nie so gut gegangen.« Das stimmte.
    Gestern Nachmittag hatte ihr Mr. Carr aus John Donnes Liedern und Gedichten vorgelesen. Donnes Liebesgedichte, so erzählte er, waren inspiriert von seiner jungen Schülerin, mit der er später durchgebrannt war.
    »Stell dir vor«, sagte er, während er ihre Bluse aufknöpfte,
    »Donne hätte diese junge Schülerin nicht geliebt.« Er zog ihr Bluse und BH aus und bedeckte beide Brüste mit seinen Händen. »Was für ein Verlust für die westliche Kultur. Was für ein tragischer, tragischer Verlust das gewesen wäre.«
    »Du bist ganz rot im Gesicht«, meinte Jamie. »So wie letztes Jahr im Zeltlager, wo du dieses Fieber hattest.
    Auch deine Augen sind ganz blutunterlaufen. Ich glaube, du musst dringend zum …«
    »Mir geht’s gut!« Sarah lachte. »Du musst mich nicht immer bemuttern.«
    »Jess sagt, dass du in letzter Zeit nicht mehr mit ihr nach Hause gegangen bist. Sie meint, du bist irgendwie sauer auf sie.«
    »Ach, bei der ist immer alles gleich so dramatisch. Ich bin einfach länger hier geblieben. Hab noch gelernt in der Bibliothek.«
    »Warum lernst du denn nicht zu Hause?«
    Sarah ignorierte ihn. Im Geist ging sie noch mal das Gedicht von Thomas Carew durch, das sie gestern Abend auswendig gelernt hatte. Am Nachmittag wollte sie es Mr.
    Carr vortragen. Es hieß »Die Verzückung«, und in selbige wollte sie ihn damit versetzen. An einer Stelle, da war sie sich völlig sicher, ging es um die Klitoris, und es war viel die Rede von Flüssigkeiten und Elixieren, die sie an den Zustand ihrer Unterwäsche erinnerten, wenn sie nach Hause kam.
    »Ich glaube, Sie verbergen etwas, Miss Clark.« Jamie sprach mit der pseudovertraulichen Stimme, mit der er seinem älteren Bruder gewöhnlich zu verstehen gab, er solle aus seinem Zimmer verschwinden, weil er ihm sonst den Schädel einschlagen musste. »Vielleicht bleibst du nach der Schule nur deshalb hier, damit du dich mit jemandem treffen kannst.«
    Ihr Herz schlug schneller. »Wie kommst du denn auf so was?«
    »Ich weiß nicht.
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