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Zaehme mich

Zaehme mich

Titel: Zaehme mich
Autoren: Emily Maguire
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sehr wünschte sie sich, dass sie das Taschentuch behalten hätte.
    An jedem Wochentag hörte Sarah Clark zwei Stunden lang auf zu existieren. Danach konnte sie nie bestimmen, wann genau es passiert war, doch immer kam es zu diesem Übergang, diesem Verschmelzen, dieser Auflösung. Es gab dann keine Grenze mehr, an der ihr Körper endete und der von Mr. Carr begann. Mr. Carr erklärte ihr, dass es das war, was Shakespeare als das »Tier mit zwei Rücken«
    beschrieben hatte. Wenn zwei Menschen völlig gefangen waren im Ausdruck ihrer Liebe, verloren sie ihre Individualität und wurden zu einem einzigen Geschöpf.
    Ein echter Liebesakt voll schrankenloser Leidenschaft schuf einen Organismus, der größer war als die Summe seiner Teile; er schuf ein Tier mit zwei Rücken und nur einer Seele. Sarah wusste, dass das keine Metapher war.
    Wenn jemand an irgendeinem Tag zwischen drei und fünf zufällig über ihren geheimen Treffpunkt gestolpert wäre, hätte er nicht ein Mädchen und ihren Lehrer bei unerlaubter, undenkbarer Liebe gesehen. Er hätte nur ein zuckendes, schreiendes Ungeheuer mit zwei Köpfen gesehen. Ein dumpfes Geschöpf ohne Bewusstsein für die Außenwelt. Ohne einen anderen Wunsch als den, mehr zu sich selbst zu werden und weniger alles andere zu sein.
    In den restlichen zweiundzwanzig Stunden jedes Tages und während der endlosen Wochenenden ohne Schule fühlte sich Sarah abgespaltener denn je, als wären die Ränder ihres Körpers dichter geworden, als würde sie bei jeder Bewegung die Luft aufwirbeln. Wenn sie am Morgen ins Bad lief, spürte sie jede Faser des Teppichs, die sie mit ihren bloßen Füßen flach trat. Beim ersten Biss in den Frühstückstoast nahm sie die winzigen Furchen auf dem dünnen Rand jedes einzelnen Zahns wahr, der durch das Brot schnitt. Sie empfand das Erwachen jeder einzelnen Geschmacksknospe, die mit der Erdbeermarmelade in Berührung kam. Und der Reiz war so stark, dass sie nicht mehr als eine halbe Scheibe hinunterbekam.
    Kämmen, Zähneputzen, Duschen – alles fühlte sich an wie Masturbieren. Sie zog den BH an und dachte: Die Haut auf meinem Rücken ist glatter als mein Gesicht. Sie stupste sich und sagte: Das ist mein Finger, das sind meine Rippen. In der Nacht wachte sie auf, weil sie jemand innen an den Schenkeln angefasst hatte; die Finger eines Fremden zogen an ihren Brustwarzen. Beim Einsteigen in den Bus berührte sie ein alter Mann unten am Rücken, und sie erschauerte, als hätte er die ganze Hand in sie hineingesteckt, als hätte er ihr ein Stück ihrer Seele genommen.
    Ihr Körper war immer erhitzt. Ihr Höschen war immer feucht. Jeden Abend musste sie sich die Haare waschen und die Beine rasieren. Immer wieder hatte sie wunde Knie, und kleine blaue Flecken erschienen, vergingen, nur um an Schenkeln und Handgelenken erneut aufzutauchen.
    Manchmal hatte sie auch Bissmale am Hintern oder im Nacken. Sie fühlte sich größer und stärker und machte beim Gehen längere Schritte. Sie war von einem Leuchten durchdrungen und fand es einfach unglaublich, dass nicht jeder, der ihr ins Gesicht schaute, Bescheid wusste.
    »Niemand darf etwas erfahren«, ermahnte sie Mr. Carr jeden Tag vor oder nach dem Vögeln und manchmal sogar mittendrin. Hin und wieder milderte er seine Worte mit dem Zusatz ab, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als der ganzen Welt zu verkünden, wie froh er war, welche Glückseligkeit er gefunden hatte, und dass er von einer Welt träumte, die wahre Leidenschaft nicht bestrafte, sondern bejubelte. Bei anderen Gelegenheiten gab er sich streng, ja sogar bedrohlich und schärfte ihr ein, dass er seine Stelle verlieren würde und vielleicht sogar ins Gefängnis musste, falls jemand etwas herausfand. »Denk nächstes Mal daran, wenn du wieder was an deine Freunde weitertratschen möchtest.«
    »Ich tratsche nicht«, antwortete Sarah, was durchaus stimmte, doch es stimmte auch, dass sie nur zu gern jemanden von den Ereignissen erzählt hätte. Sie verspürte den Drang, es laut zu sagen – ich liebe ihn – einfach um von jemandem gehört zu werden und zu wissen, dass es wahr war.
    Sie spielte mit dem Gedanken, Jess einzuweihen, die sie schon länger kannte als jeden anderen Menschen außerhalb ihrer Familie. Schon seit die beiden vier Jahre alt waren, wohnte Jess in dem zweistöckigen pseudogotischen Haus neben Sarahs zweistöckigem pseudogotischen Haus. Ihre Eltern spielten zusammen Tennis und besuchten dieselben Dinnerpartys. Sarah und Jess
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