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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden
Autoren: Joy Fielding
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zurückkam. Sie stellte das Glas auf den Nachttisch, bückte sich, hob das Fläschchen mit den Tabletten auf, öffnete es, zerstampfte rasch zwanzig Tabletten mit dem bereitliegenden Löffel und löste sie in dem Wasser auf. Dann bettete sie Matties Kopf in ihren Arm und führte das Wasser an ihre Lippen, bis sie ihr vorsichtig die gesamte Lösung eingeflößt hatte.
    Es schmeckte bitter, und Mattie hatte Mühe, es im Magen zu
    behalten. Der Geschmack der Dunkelheit, dachte sie und ließ sich fallen.
    Langsam und entschlossen beobachtete sie, wie das Glas sich bis zum letzten Tropfen leerte. »Danke«, flüsterte sie, als ihre Mutter es wieder auf den Nachttisch stellte. Dann legte sie sich unbeholfen neben ihre Tochter und bettete Matties Kopf auf ihre Brust über ihr laut pochendes Herz.
    »Ich liebe dich, Mattie«, sagte ihre Mutter.
    Mattie schloss die Augen in dem sicheren Wissen, dass ihre Mutter bei ihr bleiben würde, bis sie eingeschlafen war. »Das war das allererste Mal, dass du mich so genannt hast«, sagte sie.
    Eine Zeit lang lag Mattie reglos m den Armen ihrer Mutter, doch
    dann fühlte sie, wie die Luft um sie herum zu kreisen und sich ihre Arme und Beine zu entspannen und zu dehnen begannen. Ihre Zehen und
    Finger spreizten sich, schon bald streckte sie die Hände aus und spürte, wie sie von ihren strampelnden Beinen angetrieben wurden. Sie
    schwamm , dachte Mattie mit einem stummen Lachen , schwamm aus der Dunkelheit ins Licht , während ihre Mutter ihr nachblickte und darauf aufpasste, das sie gut ankam.
    Mattie dachte an Jake und Kim, daran, wie schön sie beide waren und wie sehr sie sie liebte. Sie warf beiden einen stummen Kuss zu, schlüpfte leise hinter eine Wolke und verschwand.
    34

    Mattie lächelte.
    Jake betrachtete liebevoll das Foto von Mattie, die ihn von ihrem
    Stuhl vor den Tuilerien anlächelte, und strich mit den Fingern über ihre geschwungene Lippe. »C’est magnifique, n’est-ce pas?«, hörte er sie fragen und nahm sich das nächste Bild vor, auf dem Mattie fröhlich an einer Bronzestatue von Maillol lehnte. »Magnifique« , stimmte er ihr leise zu , blickte aus dem Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtete, wie die noch immer grünen Blätter der Bäume draußen in der überraschend
    warmen Oktoberbrise tanzten. Dann wanderte sein Blick wieder zu den
    Fotos in seiner Hand. War es möglich, dass ihre Paris-Reise wirklich erst ein halbes Jahr zurücklag?
    War es möglich, dass seit Matties Tod schon beinahe drei Wochen
    verstrichen waren?
    Jake schloss die Augen und durchlebte noch einmal den letzten
    Abend ihres Lebens. Er und Kim hatten das Baseballspiel Anfang des
    achten Innings verlassen, auf der Rückfahrt in einem 24-Stunden-
    Supermarkt Milch und Apfelsaft gekauft und waren früher als erwartet nach Hause gekommen. Vivs Wagen stand noch in der Einfahrt, und er
    hörte sie oben kurz herumhantieren, bevor sie sie verspätet begrüßte.
    »Wie geht es ihr?«, fragte er. »Sie schläft friedlich«, erwiderte Viv.
    Sie schläft friedlich, wiederholte Jake jetzt und sah vor seinem inneren Auge, wie er an ihr Bett getreten war und ihr, bemüht, sie nicht
    aufzuwecken , einige Strähnen aus dem Gesicht gestrichen hatte. Sie fühlte sich warm an , ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Er zog sich aus, ging ins Bett und legte behutsam einen Arm um sie. »Ich liebe dich«, flüsterte er jetzt, wie er es immer wieder geflüstert hatte, als er neben ihr lag, während er dagegen angekämpft hatte, dass ihm die Augen zufielen, damit er über sie wachen und sie sicher in das erste Licht des neuen Tages begleiten konnte. Doch irgendwann musste er eingeschlafen sein.
    Und um drei Uhr nachts war er plötzlich hellwach gewesen, als ob
    irgendetwas oder irgendjemand ihm auf die Schulter getippt und ihn
    sanft wachgerüttelt hätte, bis er die Augen aufschlug.
    Sein erster Gedanke war, dass es Mattie gewesen sein musste, dass sie irgendwie ihre Arme wieder bewegen konnte und ihm einen verspielten
    Stups gegeben hatte, doch dann erkannte er, dass sie noch immer in derselben Position lag, in der sie es sich vor Stunden bequem gemacht hatte. Erst in diesem Moment bemerkte er die tiefe und vollkommene
    Stille, die den Raum erfüllte , und erkannte, dass es diese grausame Stille war, die ihn geweckt hatte. Er richtete sich auf, beugte sich vor und strich mit den Lippen über Matties Stirn. Sie fühlte sich unnatürlich kalt an, sodass er automatisch die Decken über ihre Schultern
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