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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman
Autoren: Adam-Troy Castro
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PROLOG
    Wenn das Monster schläft, träumt es von Bocai.
    Bocai war einst eine nicht weiter bemerkenswerte Welt von nicht weiter bemerkenswerter Schönheit. Es gab dort Wüstenlandschaften, die von riesigen roten Dornenhalmen beherrscht wurden, Berge, gesäumt von spongiformen Bäumen, die trotz ihrer weichen Rinde groß und unbeugsam waren, Ozeane, die bei Nacht in einem phosphoreszierenden Tanz erglühten, und Tage und Nächte, die nur etwa den halben Tagesrhythmus eines Menschen ausfüllten und es all denen, die eine der kleinen Inseln von den Einheimischen gemietet hatten, folglich möglich machten, an jedem Tag, den sie auf der ausgesprochen fruchtbaren Erde zubrachten, gleich zwei Sonnenauf- und -untergänge zu erleben.
    Eine schöne Welt, ja. Eine bemerkenswert schöne Welt, nein. Alle, die häufig auf Reisen waren, stimmten darin überein, dass es Besseres gäbe.
    Dem üblichen Verhaltensmuster der Einheimischen folgend hatten auch die Angehörigen der kleinen menschlichen Gemeinde die exotischen Anblicke und Düfte als geeignetes Thema einer überschwänglichen Poesie entdeckt. Sie hatten mehrere Hundert Bände zusammengestellt, im Handumdrehen, bis ihnen allen etwas widerfuhr, das diesen Werken einen düsteren Unterton verlieh, den sie nie hätten haben sollen.
    Heutzutage, bei den seltenen Gelegenheiten, da das Monster seinen Gedanken im Wachzustand gestattet, an jenem verdammten Ort zu verweilen, fragt es sich, wie es je hatte ertragen können, dort zu leben.
    Immerhin war Bocai eine Welt.
    Und als erwachsene Frau hasst das Monster Welten.
    Als erwachsene Frau hat sie nie begreifen können, warum so viele technologisch fortgeschrittene Spezies nach wie vor natürliche Umgebungen bevorzugen, obgleich die künstlichen viel sicherer und viel leichter zu beherrschen sind.
    Als achtjähriges Mädchen wusste sie nicht, dass auch die glücklichste Welt damit enden konnte, dass sie sich in dem beengten Raum zwischen Bett und Fenster zusammenrollte und den Staub und den schweißgetränkten Geruch ihrer eigenen Angst atmete.
    Heute weiß sie es, und sie erinnert sich jedes Mal wieder daran, wenn sie von Bocai träumt, denn sie träumt nicht von der üppigen, farbenfrohen Landschaft, sondern von ebendiesem beengten Raum, von ihrem unsteten Atem, dem leisen Geruch brennenden Fleisches, den fernen Schreien von empfindungsfähigen, intelligenten Wesen, die töteten oder getötet wurden.
    Sie träumt von jener Nacht, in der Verstecken plötzlich kein Spiel für Kinder mehr war. Sie träumt von Gedanken, die nicht in ihren Kopf gehören, Gefühlen, die nicht unter ihre Haut gehören.
    Sie träumt von dem Mob der Nachbarn, die den Schädel ihrer Mutter wieder und wieder gegen eine Wand schmettern, bis alles, was diese liebenswürdige, wenngleich ein wenig verträumte Frau ausgemacht hatte, zu einem Fleck auf der gemauerten Wand verkommen war.
    Sie träumt von ihrem Vater, wie er, bewaffnet mit einer Schaufel, den Kopf eines Bocaikindes zertrümmerte, das für sie eine Schwester gewesen war.
    Sie träumt von zwei Personen, die einander bis zu dieser Nacht als beste Freunde erachtet hatten, ein Mensch, ein Bocai, die sich nun im Schlamm wälzten, aufeinander einschlugen, zerrten und kratzten, zu rasend, um auch nur unter dem Schmerz jener Wunden zu schreien, die beiden schon jetzt das Augenlicht geraubt hatten.
    Und all das war schrecklich, all das war furchteinflößend, und doch berührte sie zumindest in dieser Nacht nichts davon so, wie es sie hätte berühren sollen.
    In jener Nacht war das alles spannend.
    In jener Nacht brachte es ihr Herz zum Klopfen, und das Blut raste durch ihre Adern, ihr Körper von Gänsehaut überzogen, in der gespannten Beobachtung eines Spiels, das so aufregend war, wie sie es noch nie erlebt hatte.
    In jener Nacht bedauerte sie nur, noch zu klein zu sein, um mitzumachen.
    Weil sie auch etwas töten wollte.
    Für ein achtjähriges Hom.Sap-Mädchen war das ein seltsamer Wunsch, und der Teil des Kindes, der nicht dem Wahnsinn anheimgefallen war, war sich darüber voll und ganz im Klaren.
    In ihrem ganzen Leben hatte es bis vor wenigen Stunden keine Gewalt gegeben - und es schien, abgesehen von schlichter Selbstverteidigung, keinen Grund für den Drang zu geben, den sie nun empfand.
    Aber sie hungerte danach. Sie wollte fühlen, wie etwas Lebendiges zu etwas Totem wurde. Sie wollte im Augenblick des Todes über ihm stehen, wollte die Befriedigung spüren, die in dem Wissen lag, dass sie
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