Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
grundlegenden Persönlichkeitsrechte. Denn was
    nützten Entscheidungen, wenn man nicht mehr die Macht hatte, sie
    umzusetzen? Mattie machte Aurora keine Vorwürfe. Sie machte
    niemandem einen Vorwurf. Die gut gemeinte Taktlosigkeit anderer
    überraschte sie nicht mehr. Sie war nicht mehr wütend. Was half es, wütend zu sein?
    Was geschah, war niemandes Schuld , weder die ihrer Mutter noch ihre eigene , noch Gottes. Wenn es einen Gott gab , hatte Mattie entschieden, dann hatte er sie nicht vorsätzlich mit diesem Zustand geschlagen.
    Genauso wenig, wie er etwas daran ändern konnte. Nachdem sie
    monatelang zugesehen hatte, wie ihr Körper stetig Pfunde verlor und in sich zusammengesunken war, nachdem sie gespürt hatte, wie ihre Haut schlaff wurde und sich ihre Gesichtszüge gedehnt und verzerrt hatten , als wäre sie in einem Spiegelkabinett gefangen , hatte sie sich schließlich einer Haltung ergeben , die Thomas Hardy einmal »die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt« genannt hatte. War es Hardy oder Camus? , fragte Mattie sich , zu müde , um sich daran zu erinnern.
    Sie war so müde.
    Es war an der Zeit.
    Es war die beste Zeit. Es war die schlimmste Zeit , zitierte Mattie stumm. Charles Dickens. Kein Zweifel diesmal.
    Das schlimmste Jahr ihres Lebens.
    Das beste Jahr ihres Lebens.
    Das letzte Jahr ihres Lebens.
    Es war an der Zeit.
    »Hi, Schatz, wie geht’s?« Jake betrat die Küche, als Aurora gerade die Glasschiebetür abschloss.
    Mattie lächelte wie immer, wenn sie ihren Mann sah. Er hatte in den
    vergangenen Monaten abgenommen und ein paar graue Haare
    bekommen, Nebenwirkungen ihrer heimtückischen Krankheit, doch er
    schaffte es, so attraktiv auszusehen wie eh und je, vielleicht sogar noch ein bisschen distinguierter. Er behauptete, Gewichtsverlust und graue Haare seien der Preis, den er dafür zahlte, wieder zu arbeiten. Er war nicht zu Richardson, Buckley und Lang zurückgekehrt , doch im Laufe des Sommers hatte man ihn als Berater für mehrere komplizierte Fälle hinzugezogen, und er war von einer Reihe junger Anwälte angesprochen worden, die daran dachten , sich selbstständig zu machen und Anfang kommenden Jahres eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Kein Interesse , erklärte Jake ihnen und behauptete , er wäre vollauf zufrieden damit , zu Hause zu arbeiten. Doch Mattie konnte nicht umhin , das Feuer in seinen Augen zu bemerken, wenn er von ihnen sprach, und sie wusste, dass er die Aufregung des täglichen Nahkampfs vermisste. Wie lange konnte sie ihn noch zurückhalten? Was konnte er noch für sie tun, was er nicht schon getan hatte? Sie konnte ihn nicht einmal mehr anfassen , dachte sie , als Jake sich zu einem Kuss herabbeugte.
    Es war an der Zeit.
    Alles fügte sich. Der Privatdetektiv, den Jake engagiert hatte, um seinen Bruder zu finden , verfolgte mehrere viel versprechende Spuren.
    Offenbar gab es drei Nicholas Harts, die das richtige Alter hatten und Jakes Beschreibung in etwa entsprachen – einen in Florida, einen in Wisconsin und einen in Hawaii. Es war möglich, dass einer dieser drei Männer Jakes Bruder war, und wenn nicht, war zumindest der erste
    Schritt getan. Es war nicht nötig, dass Mattie blieb, bis Jake die Ziellinie überquerte. Er hatte bereits gewonnen, dachte sie und genoss den
    sanften Druck seiner Lippen auf ihren.
    »Im Pende Fine Arts Museum wird nächste Woche eine
    Fotoausstellung eröffnet« , erzählte Jake ihr und setzte sich auf den Küchenstuhl, damit er ihr in die Augen sehen konnte. »Ich dachte, wir könnten vielleicht am nächsten Samstag hingehen und Kim mitnehmen.«
    Mattie nickte. Jake hatte die zerstörte Raphael-Goldchain-Fotografie ersetzt, und Kim zahlte ihm im Monat zehn Dollar von ihrem
    Taschengeld zurück. Deshalb hatte sie beinahe so etwas wie Besitzerstolz auf das Bild entwickelt und angefangen, sich ernsthaft für Fotografie zu interessieren.
    »Ich habe gedacht, dass wir Kim vielleicht eine neue Kamera kaufen
    könnten« , sagte Jake , als hätte er Matties Gedanken gelesen. »Die, die sie jetzt hat, ist ziemlich primitiv.«
    Mattie nickte noch einmal.
    »O je, wir haben fast keine Milch mehr«, verkündete Aurora , als sie den Karton aus dem Kühlschrank nahm und ihn schüttelte.
    »Ich hol später welche« , bot Jake an.
    »Und Apfelsaft«, fügte Aurora hinzu.
    »Ich hol alles nach dem Spiel.«
    Er tat so viel, dachte Mattie. Er hatte so viel aufgegeben. Honey.
    Seine Karriere. Das letzte Jahr seines Lebens. Alles für sie. Sie konnte ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher