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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden
Autoren: Joy Fielding
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hoch, und die hässlichen Geräusche schallten laut über das Wasser und brachen sich an den Wänden des Pools.
    Warum lache ich?, fragte sie sich, unfähig aufzuhören.
    »Hey, was ist los?« Die Stimme befand sich irgendwo oberhalb von
    ihr. »Mama? Mama, ist alles in Ordnung?«
    Mattie hob die Hand zur Stirn, um ihre Augen gegen die gleißenden
    Sonnenstrahlen abzuschirmen, die sie wie ein Scheinwerfer umfingen, und blickte hinauf zu der großen schattigen Terrasse aus Zedernholz hinter der Küche des roten Backsteinhauses, in dem sie und ihre Familie lebten. Ihre Tochter Kim stand scharf umrissen vor dem Herbsthimmel, die sonst so klaren Züge ihres Gesichts seltsam verwischt vom grellen Sonnenlicht. Aber das machte nichts. Mattie kannte jede Linie und
    Kontur ihres Gesichts und ihres Körpers: die großen blauen Augen, die dunkler waren als die ihres Vaters und größer als die ihrer Mutter; die lange, gerade Nase, die sie vom Vater, den Mund mit dem hübsch
    geschwungenen Amorbogen, den sie von der Mutter mitbekommen
    hatte; die knospenden Brüste, die schon jetzt, obwohl Kim erst fünfzehn war, eine Üppigkeit erahnen ließen, die von der Großmutter an ihre
    Enkelin weitergegeben worden war; Kim war groß wie ihre beiden
    Eltern und dünn wie ihre Mutter in diesem Alter. Aber sie hatte eine weit bessere Haltung, als Mattie sie mit fünfzehn gehabt hatte, ja, als sie sie heute hatte. Kim brauchte man nicht zu ermahnen, die Schultern zu
    straffen oder den Kopf hoch zu halten; sie besaß, das sah man auch jetzt, wie sie da biegsam wie ein junger Baum an dem stabilen Holzgeländer lehnte, ein natürliches Selbstbewusstsein, das Mattie erstaunlich fand.
    Manchmal fragte sie sich, ob sie an seiner Entwicklung überhaupt
    mitgewirkt hatte.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Kim ein zweites Mal und reckte ihren langen, schlanken Hals, um zum Pool hinuntersehen zu können. Ihr
    schulterlanges blondes Haar war streng zurückgenommen und oben am
    Scheitel zu einem festen kleinen Knoten gedreht. Meine kleine
    Schulmamsell, zog Mattie sie manchmal liebevoll auf.
    »Ist jemand bei dir?«, rief Kim.
    »Alles in Ordnung«, antwortete Mattie, musste aber immer noch so
    stark husten, dass ihre Worte nicht zu verstehen waren. Deshalb
    wiederholte sie »Alles in Ordnung« und begann dann von neuem
    schallend zu lachen.
    »Was ist denn so komisch?« Kim kicherte, zaghaft und scheu in ihrem
    Bemühen, an dem Schmerz teilzuhaben, der ihre Mutter so amüsierte.
    »Mir ist der Fuß eingeschlafen«, sagte Mattie, während sie langsam
    beide Füße zum Grund des Beckens hinunterließ und erleichtert
    wahrnahm, dass sie stand.
    »Beim Schwimmen?«
    »Ja. Ist das nicht ulkig?«
    Kim zuckte kurz mit den Schultern, als wollte sie sagen, so ulkig auch wieder nicht, und beugte sich aus dem Schatten ein Stück weiter vor. »Ist wirklich alles okay?«
    »Aber ja. Ich habe nur ein bisschen Wasser geschluckt.« Mattie
    hustete, wie um ihren Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Als sie sah, dass Kim ihre Lederjacke anhatte, wurde ihr zum ersten Mal an diesem Morgen die herbstliche Kühle des Tages bewusst. Es war immerhin
    schon Ende September.
    »Ich geh jetzt«, sagte Kim, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.
    »Was hast du heute vor?«
    »Ich habe am Nachmittag einen Termin mit einem Klienten, der sich
    ein paar Fotografien ansehen will.«
    »Und heute Morgen?«
    »Heute Morgen?«
    »Dad hält sein Schlussplädoyer«, sagte Kim.
    Mattie nickte, ungewiss, wohin dieses Gespräch führen würde.
    Während sie auf die nächsten Worte ihrer Tochter wartete, sah sie zu dem alten Ahornbaum hinauf, der hoch und ausladend im
    Nachbargarten stand. Im grünen Laub begann das tiefe Rot des Herbstes sich auszubreiten. Es sah aus, als bluteten die Blätter langsam aus.
    »Er würde sich bestimmt freuen, wenn du ins Gericht kämst, um ihn
    anzufeuern. Du weißt schon, wie du das bei mir immer tust, wenn ich in der Schule Theater spiele. Zur moralischen Unterstützung und so.«
    Und so, dachte Mattie, sagte aber nichts, hüstelte nur ein wenig.
    »Na ja, egal, ich geh jetzt jedenfalls.«
    »Okay, Schatz. Ich wünsch dir einen schönen Tag.«
    »Ich dir auch. Gib Dad einen Kuss von mir. Als Glücksbringer.«
    »Ich wünsch dir einen schönen Tag«, wiederholte Mattie und blickte
    Kim nach, bis diese im Haus verschwunden war. Wieder allein, schloss sie die Augen und ließ sich unter den glatten Wasserspiegel sinken.
    Augenblicklich schlug ihr das Wasser
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