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Die Physiker

Die Physiker

Titel: Die Physiker
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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[11]  Erster Akt
    Ort: Salon einer bequemen, wenn auch etwas
verlotterten Villa des privaten Sanatoriums ›Les Cerisiers‹.
    Nähere Umgebung: Zuerst natürliches, dann verbautes Seeufer, später eine
mittlere, beinahe kleine Stadt. Das einst schmucke Nest mit seinem Schloß und
seiner Altstadt ist nun mit gräßlichen Gebäuden der Versicherungsgesellschaften
verziert und ernährt sich zur Hauptsache von einer bescheidenen Universität mit
ausgebauter theologischer Fakultät und sommerlichen Sprachkursen, ferner von
einer Handels- und einer Zahntechnikerschule, dann von Töchterpensionaten und
von einer kaum nennenswerten Leichtindustrie und liegt somit schon an sich
abseits vom Getriebe. Dazu beruhigt überflüssigerweise auch noch die Landschaft
die Nerven, jedenfalls sind blaue Gebirgszüge, human bewaldete Hügel und ein
beträchtlicher See vorhanden sowie eine weite, abends rauchende Ebene in
unmittelbarer Nähe – einst ein düsteres Moor – nun von Kanälen durchzogen und
fruchtbar, mit einer Strafanstalt irgendwo und dazugehörendem
landwirtschaftlichem Großbetrieb, so daß überall schweigsame und schattenhafte
Gruppen und Grüppchen von hackenden und umgrabenden Verbrechern sichtbar sind.
Doch spielt das Örtliche eigentlich keine Rolle, wird hier nur der Genauigkeit
zuliebe erwähnt, verlassen wir doch nie die Villa des Irrenhauses (nun ist das
Wort doch gefallen), noch präziser: auch den Salon werden wir nie [12]  verlassen,
haben wir uns doch vorgenommen, die Einheit von Raum, Zeit und Handlung streng
einzuhalten; einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische
Form bei.
    Doch zur Sache. Was die Villa betrifft, so waren in ihr einst sämtliche
Patienten der Gründerin des Unternehmens, Fräulein Dr. h. c. Dr. med. Mathilde
von Zahnd, untergebracht, vertrottelte Aristokraten, arteriosklerotische
Politiker – falls sie nicht noch regieren –, debile Millionäre, schizophrene
Schriftsteller, manisch-depressive Großindustrielle usw., kurz, die ganze
geistig verwirrte Elite des halben Abendlandes, denn das Fräulein Doktor ist
berühmt, nicht nur weil die bucklige Jungfer in ihrem ewigen Ärztekittel einer
mächtigen autochthonen Familie entstammt, deren letzter nennenswerter Sproß sie
ist, sondern auch als Menschenfreund und Psychiater von Ruf, man darf ruhig
behaupten: von Weltruf (ihr Briefwechsel mit C. G. Jung ist eben erschienen).
Doch nun sind die prominenten und nicht immer angenehmen Patienten längst in
den eleganten, lichten Neubau übergesiedelt, für die horrenden Preise wird auch
die bösartigste Vergangenheit ein reines Vergnügen. Der Neubau breitet sich im
südlichen Teil des weitläufigen Parks in verschiedenen Pavillons aus (mit Ernis
Glasmalereien in der Kapelle) gegen die Ebene zu, während sich von der Villa
der mit riesigen Bäumen bestückte Rasen zum See hinunterläßt. Dem Ufer entlang
führt eine Steinmauer.
    Im Salon der nun schwach bevölkerten Villa halten sich meistens drei Patienten
auf, zufälligerweise Physiker, oder doch nicht ganz zufälligerweise, man wendet
humane Prinzipien an und läßt beisammen, was zusammengehört. Sie leben für
sich, jeder eingesponnen in seine [13]  eingebildete Welt, nehmen die Mahlzeiten
im Salon gemeinsam ein, diskutieren bisweilen über ihre Wissenschaft oder
glotzen still vor sich hin, harmlose, liebenswerte Irre, lenkbar, leicht zu
behandeln und anspruchslos. Mit einem Wort, sie gäben wahre Musterpatienten ab,
wenn nicht in der letzten Zeit Bedenkliches, ja geradezu Gräßliches vorgekommen
wäre: Einer von ihnen erdrosselte vor drei Monaten eine Krankenschwester, und
nun hat sich der gleiche Vorfall aufs neue ereignet. So ist denn wieder die
Polizei im Hause. Der Salon ist deshalb mehr als üblich bevölkert. Die
Krankenschwester liegt auf dem Parkett, in tragischer und definitiver Stellung,
mehr im Hintergrund, um das Publikum nicht unnötig zu erschrecken. Doch ist
nicht zu übersehen, daß ein Kampf stattgefunden hat. Die Möbel sind
beträchtlich durcheinandergeraten. Eine Stehlampe und zwei Sessel liegen auf
dem Boden, und links vorne ist ein runder Tisch umgekippt, in der Weise, daß
nun die Tischbeine dem Zuschauer entgegenstarren.
    Im übrigen hat der Umbau in ein Irrenhaus (die Villa war einst der von
Zahndsche Sommersitz) im Salon schmerzliche Spuren hinterlassen. Die Wände sind
bis auf Mannshöhe mit hygienischer Lackfarbe überstrichen, dann erst kommt der
darunterliegende Gips zum
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