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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden
Autoren: Joy Fielding
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und
    zu verschwinden?
    »Wir sehen uns später.« Jakes Stimme hatte diesen falschen, viel zu munteren Ton. »Pass auf dich auf.«
    »Jake –«, begann Mattie, aber entweder er hörte sie wirklich nicht oder gab vor, sie nicht zu hören. Die einzige Antwort jedenfalls, die Mattie erhielt, war ein dumpfes Krachen, als er auflegte. Was hatte sie
    überhaupt sagen wollen? Dass sie über seine neueste Affäre Bescheid wusste? Dass es für sie beide an der Zeit war, reinen Tisch zu machen und offen einzugestehen, dass sie in dieser Ehe, die schon lange nur noch Theater war, nicht glücklich waren? Dass es an der Zeit war, den Schlussstrich zu ziehen?
    Mattie legte auf und ging langsam aus der Küche in die große Diele in der Mitte des Hauses. Schon wieder war ihr der rechte Fuß
    eingeschlafen, und sie hatte Mühe, sich beim Gehen auf den Beinen zu halten. Sie stolperte und hüpfte ein Stück auf dem linken Fuß über den blau-goldenen Gobelinteppich, während sie mit der rechten Ferse
    vergebens den Boden zu finden suchte. Sie merkte, dass sie zu fallen drohte, und nahm mit Schrecken wahr, dass sie nichts tun konnte, um den Sturz abzuwenden. Sie musste das Unvermeidliche hinnehmen und
    fiel hart aufs Gesäß. Ein paar Sekunden lang blieb sie sitzen wie betäubt, überwältigt von der Unwürdigkeit des Geschehens. »Du Mistkerl, Jake«, sagte sie schließlich heftig und würgte die unerwünschten Tränen
    hinunter. »Warum konntest du mich nicht einfach lieben? Wäre das denn so schwer gewesen?«
    Die beruhigende Gewissheit, von ihrem Mann geliebt zu werden,
    hätte ihr vielleicht den Mut gegeben, ihn wieder zu lieben.
    Mattie machte keinen Versuch aufzustehen. In ihrem nassen
    Badeanzug, der den edlen französischen Teppich durchweichte, blieb sie in der Mitte der Diele sitzen und lachte so heftig, dass ihr die Tränen kamen.
    2

    »Entschuldigen Sie«, sagte Mattie und zwängte sich an den
    unnachgiebigen Knien einer dicken Frau in Blau vorbei zu dem freien Sitzplatz direkt in der Mitte der achten und letzten Reihe des
    Besucherblocks im Gerichtssaal 703. »Tut mir Leid. Entschuldigen Sie«, richtete sie an ein altes Ehepaar, das neben der Dicken in Blau saß, und wiederholte ein letztes »Entschuldigung« an die Adresse der attraktiven jungen Blondine, neben der sie gleich Platz nehmen würde. War die
    vielleicht der Grund dafür, dass Jake sie heute Morgen nicht hier haben wollte?
    Mattie knöpfte ihren karamellfarbenen Mantel auf und streifte ihn mit möglichst wenig Bewegungen von den Schultern. Sie spürte, wie sich der Stoff an den Ellbogen zusammenschob und im Rücken spannte, sodass
    sie kaum noch die Arme bewegen konnte. Vergeblich wand sie sich auf
    ihrem Sitz, um aus dem Mantel herauszukommen, und störte dabei nicht nur die attraktive Blondine zu ihrer Rechten, sondern auch die ebenso attraktive Blondine, die, wie sie erst jetzt bemerkte, zu ihrer Linken saß.
    Diese Stadt schien ja über ein unerschöpfliches Reservoir hübscher
    Blondinen zu verfügen, aber mussten sie alle gerade an diesem Morgen hier im Gerichtssaal sein, wo gleich ihr Mann ein wichtiges Plädoyer halten würde? Vielleicht hatte sie sich im Raum geirrt. Vielleicht war sie statt in die Verhandlung des Falls Cook County gegen Douglas Bryant in eine Blondinenversammlung geraten. Schliefen sie alle mit ihrem Mann?
    Matties Blick flog nach vorn, zum Tisch der Verteidigung, wo ihr
    Mann mit gesenktem Kopf mit seinem Mandanten sprach, einem grob
    wirkenden Jungen von neunzehn Jahren, der sich in dem braunen Anzug
    und der Krawatte mit dem Paisleymuster, in denen er zweifellos auf
    Anraten seines Verteidigers vor Gericht erschienen war, sichtlich unwohl fühlte. Sein Gesicht war merkwürdig leer, als wäre er, genau wie Mattie das eben von sich vermutet hatte, in den falschen Raum geraten und wüsste nicht recht, was er hier zu tun hatte.
    Und was habe ich hier zu tun?, fragte sich Mattie unvermittelt. Hatte Jake sie nicht ausdrücklich gebeten, nicht zu kommen? Hatte Lisa ihr nicht ebenfalls von einem Besuch abgeraten, als sie doch noch angerufen und um Rat gefragt hatte? Sie sollte auf der Stelle aufstehen und gehen, sich hinaus schleichen, bevor Jake sie bemerkte. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Dass er für ihre Unterstützung dankbar wäre, wie Kim gemeint hatte? War sie
    deshalb hergekommen? Zu seiner Unterstützung? Oder hatte sie gehofft, einen Blick auf seine neueste Geliebte werfen zu
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