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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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Saguljais Tod
    Ich muss euch aber sagen, dass unsere Stadt um den sechsten August, zur Apfelweihe, wenn der Himmel sich vom Sommer zum Herbst hinüberneigt, gewöhnlich einem wahren Ansturm von Zikaden ausgesetzt ist, so dass man nachts nicht schlafen kann, und wenn man noch so müde ist – so laut schallt das Gezirpe von allen Seiten, die Sterne sinken tief herab, und der Mond hängt ohnehin so dicht über den Glockentürmen, dass er Ähnlichkeit gewinnt mit unserem berühmten Sauerrahmapfel, den die Kaufleutei der Stadt auch an den Zarenhof liefern und sogar auf europäischen Ausstellungen zeigen. Hätte jemand aus der Himmelssphären, von wo die nächtlichen Gestirne herab strahlten, einen Blick auf die Stadt Sawolshsk werfen können, so würde sich ihm wohl das Bild eines Zauberreichs geboten haben: der träge glitzernde Fluss, die blinkenden Dächer, das Flimmern der Gaslaternen, und über all dem vielgestaltigen Lichterspiel schwebt der silberne Klang des Zikadenchors.
    Aber nun zu Bischof Mitrofani. Die Natur wurde soeben nur erwähnt, um zu erklären, warum es in solch einer Nacht nicht leicht war einzuschlafen, selbst für einen gewöhnlichen Menschen, dem weniger Sorgen aufgebürdet waren als dem Bischof. Nicht umsonst behaupteten Übelwoller, die jeder hat, den würdigen Seelenhirten nicht ausgenommen, dass nicht der Gouverneur Anton Antonowitsch von Gaggenau, sondern der Bischof der wahre Regent unserer ausgedehnten Region sei.
    Nun ja, ausgedehnt ist sie, aber nicht eben dicht bevölkert. Die einzige richtige Stadt ist wohl Sawolshsk, und die übrigen, auch die Kreisstädte, präsentieren sich als ausladende Kirchdörfer mit einem Häuflein steinerner Amtsgebäude rund um den einzigen Platz, einer kleinen Kathedrale und hundert bis zweihundert Blockhäusern mit Blechdächern, die aus irgendwelchen Gründen bei uns von alters her grün gestrichen sind.
    Aber auch die Gouvernementhauptstadt ist nicht gerade ein Babylon – in der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, hatte sie dreiundzwanzigtausendfünfhundertelf Bürger beiderlei Geschlechts. Allerdings würde die Einwohnerschaft in der Woche nach Christi Verklärung, falls bis dahin niemand verschied, um zwei weitere Seelen anwachsen, denn die Ehefrau des Leiters der Gouvernementkanzlei Stops sowie die Kleinbürgerin Safulina waren in anderen Umständen, die Letztere nach einhelliger Meinung sogar schon über die Zeit.
    Die Gepflogenheit, die Bevölkerung genau zu registrieren, war erst vor kurzem von der jetzigen Macht eingeführt worden, und das auch nur in den Städten. Wie viele Leutchen in den Wäldern und Sümpfen hausten, mochte Gott allein wissen, wer sollte die schon zählen. Vom Fluss bis zum Uralgebirge zog sich über Hunderte Werst undurchdringliche Wildnis hin. Darin gab es Einsiedeleien von Altgläubigen sowie Salzsiedereien, und an den Ufern der tiefen dunklen Flüsse, die zumeist namenlos waren, lebte der Stamm der Syten, ein friedliches und folgsames Volk ugrischer Abstammung.
    Die einzige Erwähnung der schon uralten Existenz unseres unbedeutenden Gebiets steht in dem »Nishni Nowgoroder Lesebuch«, einer Chronik aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Dort ist die Rede von einem Mann aus Nowgorod namens Ropscha, welchen in den hiesigen Wäldern »wilde kahlbäuchige Heiden weggefangen« und ihm als Opfergabe für ihren steinernen Götzen Schischiga den Kopf abgetrennt hatten, woraufhin, wie der Chronist zu erläutern für nötig hält, »selbiger Ropscha verstorben und verdorben und ohne Haupt beerdigt worden«.
    Aber das war in fernen, mythischen Zeiten. Gegenwärtig ist es bei uns schön und still, an den Landstraßen wird niemand ausgeraubt, auch nicht totgeschlagen, und selbst die Wölfe in den hiesigen Wäldern sind wegen des Überflusses an Getier sichtbarlich dicker und träger als in den anderen Gouvernements. Uns geht es gut, Gott gebe das allen. Und was das Murren der Übelwoller betrifft, so wollen wir die Frage, wer der wahre Regent der Region Sawolshsk sei, der Bischof Mitrofani, der Gouverneur Anton von Gaggenau, die überaus klugen Berater des Gouverneurs oder gar seine Gattin Ljudmila Platonowna, lieber unbeantwortet lassen, da sie uns nichts angeht. Wir sagen nur, dass der Bischof in Sawolshsk erheblich mehr Verehrer und Verbündete hat als Feinde.
    Im Übrigen haben diese Letzteren in jüngster Zeit im Zusammenhang mit gewissen Ereignissen Mut gefasst und das Haupt erhoben, was Mitrofani zusamt dem irrsinnigen
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