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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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es. Eine Dummheit, so schien es, aber in der Seele war ein Ziehen. Ob er ihn noch einmal las?
    Er setzte sich auf, zündete die Kerze an, klemmte den Kneifer auf die Nase. Wo war er, der Brief? Da, auf dem Tischchen.
    »Mein lieber Mischenka«, schrieb die alte Marja Tatistschewa, die ihren Neffen nach alter Gewohnheit bei seinem längst vergessenen weltlichen Vornamen nannte, »bist du gesund? Hat dich die verfluchte Gicht losgelassen? Legst du auch immer Kohlblätter auf, wie ich dich geheißen? Mein Apollon Nikolajewitsch selig hat immer gesagt, dass . . .« Es folgte eine ausschweifende Beschreibung der Wunder wirkenden Eigenschaften des Gemüsekohls; der Bischof überflog ungeduldig die gleichmäßigen Zeilen. Seine Augen stießen auf einen unangenehmen Namen. »Wladimir Lwowitsch Bubenzow hat mich wieder besucht. Was wird nicht alles über ihn zusammengelogen: Er wäre ein Gauner oder gar ein Verbrecher. Dabei ist er ein prächtiger junger Mann, und er gefällt mir. Geradezu, ohne Dünkel, und versteht etwas von Hunden. Hast du gewusst, dass er durch die Strjochnins mit mir verwandt ist? Meine Oma Adelaida Sekandrowna war in zweiter Ehe . . .« Nein, das war’s nicht, weiter.
    Aha, da: »Aber all das hat mit der Sache nichts zu tun, und ich schreibe es nur, weil ich aus Herzensschwäche zögere, zum Wichtigsten zu kommen. Sowie ich dazu ansetze, fließen die Tränen in zwei Bächlein, meine Hand zittert, und mir wird kalt in der Brust. Mischenka, ich schreibe dir nicht von ungefähr. Ich habe großen Kummer, und nur du wirst mich verstehen, die anderen werden höchstens ein Gelächter anstimmen und sagen, jetzt hat die dumme alte Gans vollends den Verstand verloren. Ich wollte schon selber zu dir kommen, aber die Kraft reicht nicht, obwohl es ja gar nicht weit ist. Ich liege darnieder und weine, weine. Du weißt, wie viele Jahre, wie viel Kraft und wie viel Mittel ich aufgewendet habe, um das Werk zu Ende zu führen, dem Apollon Nikolajewitsch sein Leben geweiht hatte.« (Hier schüttelte der Bischof den Kopf, denn zu dem Werk, dem sein Onkel sein Leben geweiht hatte, verhielt er sich skeptisch.) »So erfahre denn, mein Freund, was für eine Missetat sich auf meinem Gut Drosdowka zugetragen hat. Irgendein Widersacher, einer von meinen Leuten wohl, hat Saguljai und Sakidai Gift ins Futter gestreut. Sakidai ist jünger, den habe ich mit Brechweinstein kuriert, aber Saguljai ist gestorben. Die ganze Nacht hat er gelitten, sich hin und her geworfen, hat Tränen geweint wie ein Mensch und mich kläglich angeguckt, als ob er sagen wollte: Rette mich, Mütterchen, du bist meine ganze Hoffnung. Ich konnte ihn nicht retten. Gegen Morgen hat er jämmerlich aufgeschrien, ist auf die Seite gesunken und hat den Geist aufgegeben. Ich habe das Bewusstsein verloren und habe drei Stunden gelegen, dann kam der Doktor aus der Stadt. Jetzt liege ich im Bett und bin ganz schwach vor Angst. Denn das ist eine Verschwörung, Mischenka, eine bösartige Verschwörung. Jemand will meine Tierchen umbringen und damit auch mich alte Frau. Bei Gott dem Allerhalter flehe ich dich an, komm her. Nicht um mir als Seelenhirt Trost zu spenden, das brauche ich nicht, sondern zum Ermitteln. Alle sagen, du hast die Gabe, jeden Übeltäter zu durchschauen und jede verbrecherische Intrige aufzuklären. Gibt es eine schlimmere Untat als diese? Komm her und rette mich, und ich werde ewig deine Anbeterin sein und in meinem Testament ein reiches Vermächtnis aussetzen, für eine Kirche oder ein Kloster oder auch für die Waisenkinder.« Am Schluss des Briefes wechselte die Tante vom verwandtschaftlichen Ton ins Respektvolle, Offizielle: »Mich Ihrer väterlichen Aufmerksamkeit und Ihren bischöflichen Gebeten empfehlend und Ihren Segen erflehend, verbleibe ich Eurer Bischöflichen Gnaden ergebene Magd Marja Tatistschewa.«
    An dieser Stelle scheint eine Erklärung zu der Gabe angebracht, von der die Generalswitwe schreibt und die einer geistlichen Person im Bischofsrang nicht so recht zu Gesicht steht. Nichtsdestoweniger besaß Mitrofani neben erhabenen Vorzügen auch das selten anzutreffende wertvolle Talent, komplizierte Rätsel zu entwirren, namentlich solche mit verbrecherischem Hintergrund. Man kann sogar sagen, er hatte eine richtige Leidenschaft für solche Akrobatik des Verstandes, und es war mehrmals vorgekommen, dass Polizeibehörden, sogar aus den angrenzenden Gouvernements, bei einer verwickelten Untersuchung respektvoll seinen Rat einholten.
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