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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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war einfach nicht mehr da.
    Ich blinzelte.
    »Guck!«, flüsterte der Junge mit dem MP3-Player und stieß mich an. »Guck, da!«
    Und da sah ich, wie Rikikikri sich regte. Zuerst bewegte er einen Flügel, danach den anderen, schließlich öffnete er die gelben Augen und hob den Kopf. Und dann kam er taumelnd auf die Beine und schüttelte sein Gefieder. Er schlug mit den Flügeln und sah mich an, und in seinen Augen sah ich zwei Personen. Ich sah meinen Adler darin, Rikikikri, den tapfersten und mutigsten Seeadler aller Zeiten, meinen Freund. Und ich sah meine Schwester.
    Malin öffnete eines der riesigen Glasfenster, und Rikikikri breitete seine Schwingen aus und flog hindurch. Wir gingen alle hinaus und sahen ihm nach, sahen, wie er kleiner und kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
    »Sie … sie ist fort«, sagte ich. »Sie … sie ist einfach verschwunden.«
    »Wer?«, fragte Malins Mutter.
    »Meine Schwester«, sagte ich. »Das Mädchen, das eben noch hier stand. Haben Sie es nicht gesehen? Sie hat sich in Luft aufgelöst.«
    Der Mann mit den Wintermeeraugen schüttelte den Kopf.
    »Hier stand kein Mädchen«, sagte er.
    »Doch«, beharrte ich. »Sie sah beinahe genauso aus wie ich. Sie … sie sah genauso aus wie ich.« Ich wandte mich zu meinem Vater. »Du, du hast sie doch gesehen! Sie war die ganze Zeit neben mir, bei den Klippen draußen, und hier … sie stand da, gleich neben dem Sessel … Du weißt doch, dass ich eine Schwester habe! Sie ist von zu Hause weggelaufen, als sie drei oder vier war, weil sie ahnte, was passieren würde … Sie hat im Wald mit den Tieren gelebt …« Ich verstummte.
    Mein Vater schüttelte langsam den Kopf. »Lion«, sagte er, »du hast keine Schwester. Du hattest nie eine.«
    »Das – das kann doch nicht sein!«, rief ich verzweifelt. »Ich kann mir doch nicht alles ausgedacht haben! Olin und … und die weiße Königin, die uns vorgelesen hat, als ich klein war …«
    »Die weiße Königin?«, fragte der Mann mit den Wintermeeraugen.
    »Ja«, sagte ich. »Sie hatte weißes Haar, und sie kam jeden Samstag in die Kirche in Wehrland. Bis sie verreist ist.«
    »Die weiße Königin«, sagte der Junge mit dem MP3-Player, »ist meine Großmutter. Ich wollte es dir immer erklären, aber … ich glaube, du wolltest es nicht wissen. Sie hat mir damals erzählt, dass sie den Kindern in der Kirche alle Bücher vorlas, die sie liebte. Sie sagte, es wäre wichtig.«
    Ich starrte ihn an. Ich hatte es gewusst. Natürlich.
    Meine weiße Königin gehörte nicht mir.
    »Einmal bin ich mitgegangen, in die Kirche«, sagte der Junge. »Um auch zuzuhören. Du hast mich wohl nicht gesehen.«
    »Ich habe nur sie gesehen«, sagte ich.
    Der Junge nickte.
    Und da holte ich tief Luft, sehr tief, und fragte ganz leise: »Wo ist sie? Immer noch in Berlin? In dem Krankenhaus?«
    »Nein«, sagte der Junge mit dem MP3-Player.
    »Nein«, wiederholte ich und sah zu Boden.
    Und schluckte. Und schluckte. Und schluckte. Wie bei dem Ende von dem Buch, in dem der Junge starb und in ein anderes Land kam.
    »Sie ist wahrscheinlich im Zug«, sagte der Junge mit dem MP3-Player. »Im Zug von Berlin hierher.«
    »Was?«, fragte ich und sah ihn an, und ich machte wohl ein sehr dummes Gesicht, denn er lachte. Aber nicht unfreundlich, eigentlich.
    »Wir waren auch in einem Zug …«, murmelte ich. »Mein Adler und ich … auf dem Behindertenklo.«
    »Ich denke, sie sitzt lieber auf einem normalen Platz«, sagte der Junge mit dem MP3-Player. »Das ist bequemer. Sie braucht es ein bisschen bequem, jetzt. Sie ist irgendwie nicht ganz gesund geworden. Sie war so lange im Krankenhaus … Aber jetzt hat sie beschlossen, dass sie hierherkommt. Sie hat gesagt, den Rest ihres Lebens will sie hier verbringen, in diesem Haus. Wo sie den Wald mit seinen Ästen rauschen hört und die Seeadler sieht. Wir wohnen ja nicht wirklich hier, nur in den Ferien. Aber so weit weg wohnen wir nicht. Und wenn sie hier wohnt, können wir sie immer besuchen.«
    Ich schüttelte den Kopf. Dann nickte ich. Und dann schüttelte ich wieder den Kopf. »Sie kommt also her«, wisperte ich.»Die weiße Königin kommt her. Ich wollte immer zu ihr, und jetzt kommt sie zu mir.«
    Natürlich kam sie nicht zu mir, sondern zu ihrer Familie. Sie hatte mich längst vergessen. Aber das machte nichts aus. Sie würde sich erinnern.
    Ich sah mich nach den Erwachsenen um, die ein wenig zur Seite getreten waren und sich leise unterhielten.
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