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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Adler sein!«, schrie ich. »Lass mich! Lass mich los! Lass mich zurückgehen! Du verstehst nichts, nichts! Ich wollte fliegen! Endlich fliegen!«
    Da waren der Junge mit dem MP3-Player und sein Vater bei uns. Sein Vater nahm mich beim Arm und hielt mich sehr fest.
    »Für das, was du da getan hast, würde ich dich gerne ohrfeigen«, sagte er, und dann sah er mir in die Augen. Seine Augen waren grau wie das Wintermeer. Ich war ihm noch nie nahe genug gewesen, um das zu sehen. Beinahe schien es, als könnte ich die Silhouetten der Seeadler in diesen Augen sehen. In meinen Augen jedoch schien der Mann andere Dinge zu lesen. »Aber ich werde es nicht tun«, sagte er.
    »Ja«, flüsterte ich und sah zu Boden. Ich hatte aufgehört, mich zu wehren. »Dafür, dass ich das Gewehr genommen habe und …«
    »Unsinn«, sagte der Mann mit den Wintermeeraugen. »Dafür, dass du versucht hast, von der Klippe zu stürzen. Komm jetzt mit.«
    Mein Vater hatte mich losgelassen, und der Mann mit den Wintermeeraugen führte mich mit sich auf das Haus zu. Er war stark, stärker als mein Vater. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, sich zu wehren. Ich wandte den Kopf und sah mich nach Olin um. Niemand hielt Olin fest. Nun, Olin hatte auf niemanden mit einem Gewehr gezielt.
    Sie hob die Schultern. Zum ersten Mal wusste auch Olin keinen Ausweg.
    Ich sah Rikikikri über uns kreisen. Auch er schien zu überlegen, was er tun sollte. Es gab nichts mehr zu tun.
    Meine Geschichte war zu Ende. Sie war großartig gewesen und fürchterlich, schrecklich und schön, und nun war sie zu Ende. Sie würden mich fort von hier bringen, weit fort, und mich in irgendeine Anstalt stecken, wo Kinder hinkamen, die zu jung waren für die grauen Mauern der Gefängnisse.
    Ich versuchte, alles in mich aufzunehmen, ehe der Mann mit den Winteraugen mich ins Haus schob: den hohen blauen Himmel. Den Geruch des Meeres, den der Wind mitbrachte. Den gleitenden Flug der Seeadler. Das Rauschen der Bäume vom nahen Wald. Die Wiesen und die Felder und der Horizont, auf dem die Insel Usedom im Nachmittagslicht balancierte … Ich wollte nichts davon vergessen, ich wollte alles in mir aufbewahren und hüten wie einen Schatz – besser, als ich die Worte der weißen Königin gehütet hatte.
    Nie, nie, nie sollten die Farben des Himmels und des Wassers und des Waldes in mir verblassen, nie der Umriss meines Adlers.
    Sie brachten mich ins Wohnzimmer, und plötzlich waren auch Malin und ihre Mutter da.
    Ich fühlte ihre Blicke auf mir ruhen. Ich wusste nicht, was diese Blicke bedeuteten.
    »Hör zu, Lion«, sagte der Mann mit den Wintermeeraugen. »Wir wollen nur mit dir reden, verstehst du? Nur reden. Keiner tut dir etwas.«
    Er drückte mich in einen Sessel, und ich dachte, dass er meinen Namen kannte, genau wie die Frau, die mich hatte zähmen wollen.
    »Ist sie tot?«, fragte ich. »Die Tierärztin? Ich weiß nicht, wie sie heißt … Sie hatte graues Haar.«
    »Ja«, sagte der Mann. »Nein.« Seine Augen lächelten nicht. »Ich habe mit ihr gesprochen, wir kennen uns. Du hast sie verletzt, aber sie ist nicht tot. Es war nur eine Platzwunde.«
    »Das ist gut«, sagte ich.
    Der Mann hockte sich vor mich auf den Boden und sah mich weiter an.
    »Aber so viele Dinge sind nicht gut«, sagte er.
    Da bekam ich wieder Angst, und ich sprang auf, und er sagte: »Setz dich«, und drückte mich in den Sessel zurück, und gleichzeitig sah ich, wie seine Frau und Malin zusammen die weißen Vorhänge von der Glaswand wegzogen. Der makellos geputzten, absolut durchsichtigen Glaswand.
    Und ich sah die Adler, draußen, über den Klippen: Aarak und die anderen. Aber ein Adler war ganz nah. Ein Adler hatte mich entdeckt.
    Ein Adler sah, dass jemand mich festhielt.
    »Nein!«, rief ich und versuchte, mich loszureißen. »Nicht! Die Vorhänge! Sie dürfen die Vorhänge nicht aufziehen! Die Adler! Sie – sie verstehen nicht, dass es Scheiben sind …«
    Malin ließ ihren Vorhang sofort los, doch ihre Mutter lächelte und zog den Vorhang, den sie in den Händen hielt, ganz zur Seite.
    »Die Adler kommen nicht bis hierherauf«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen.«
    »Doch!«, rief ich, und nun gelang es mir, aus den Händen des Mannes mit den Wintermeeraugen zu schlüpfen und aufzuspringen. »Sie tun es! Weil ich hier bin!«
    Der Mann hielt mich jetzt eiserner fest als zuvor, und ich kämpfte mit ihm, um freizukommen und die Vorhänge wieder zuzuziehen, und das war falsch. Denn Rikikikri, mein
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