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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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sogar einen Namen. Er heißt Aarvid.«
    »Ach so?«, sagte mein Vater. »Hm. Das ist mindestens so ein seltsamer Name wie deiner.«
    Zwei Tage später saßen wir auf der Bank vor dem Haus auf den Klippen.
    Die weiße Königin und ich.
    Sie war wirklich wiedergekommen.
    Sie war viel älter geworden. Sie brauchte jetzt einen Stock zum Gehen.
    »So«, sagte sie, »jetzt sind wir endlich mal allein.«
    Denn seit ich zum Haus auf den Klippen zurückgekommen war, waren Aarvid und Malin bei uns gewesen, oder sein Vater, oder seine Mutter. Wir hatten zusammen Kuchen gegessen, im Wohnzimmer, und über alles Mögliche geredet, über Berlin,wo man eigentlich niemanden finden konnte, und über den Wald und die Abenteuer, die ich darin erlebt hatte. Die, bei denen der schwarze König nicht vorkam.
    »Lion«, sagte die weiße Königin, »ich … habe oft an dich gedacht. Während ich verreist war. Und später, im Krankenhaus.«
    »An mich?«, fragte ich. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war nur eines von vielen Kindern gewesen, denen sie in der Kirche vorgelesen hatte.
    »Ja, an dich«, sagte die weiße Königin. »Und an deinen Adler. Du hast schon damals von deinem Adler erzählt. Ich … ich wollte nur, dass du das weißt. Dass ich an dich gedacht habe.«
    Dann nickte sie und legte das Buch zwischen uns auf die Bank. Das Buch, das sie mit hinausgenommen hatte. Es war eines, das ich noch nicht kannte. Aber ich wusste, dass die Worte darin die richtigen sein würden.
    »Ich bin sehr müde«, sagte die weiße Königin und setzte sich ein wenig bequemer auf der Bank zurecht und zog ihren Schal ein wenig enger, gegen den kalten Wind vom Meer.
    »Ich glaube, ich kann heute nicht vorlesen.«
    »Nein«, sagte ich und war sehr enttäuscht. Dann fiel mir etwas ein.
    Und ich nahm das Buch von der Bank und schlug es auf.
    »Ab heute«, sagte ich, »lese ich vor. Und Sie dürfen zuhören.«
    Sie nickte wieder. »Ja«, sagte sie. »Ja, das ist eine gute Idee.«
    Und dann begann ich, eine neue Geschichte zu lesen, eine ganz neue, voller klingender Worte und Abenteuer. Am Anfang las ich langsam, stockend, mühsam. Ich stolperte über die langen Sätze und hakte mich an den schwierigen Ausdrücken fest. Als ich Olin vorgelesen hatte, hatte ich nicht gemerkt, wie viele lange Sätze es in Büchern gab. Doch nach einer Weile wurde es leichter. Vielleicht, weil die weiße Königin zuhörte, ohne mich zu verbessern. Sie saß ganz still und sah aufs Meer hinaus und lauschte.
    Und ich las flüssiger und schneller, und der Klang der Worte stieg hinauf in den Himmel wie goldene Seifenblasen.
    Ich konnte es, dachte ich. Ich konnte, was die weiße Königin konnte. Ich konnte die Worte zum Klingen bringen.
    Irgendwann spürte ich, dass jemand hinter uns getreten war. Ich sah mich um, und da stand mein Vater, ein wenig abseits, als traue er sich nicht, sich zu uns auf die Bank zu setzen. Er musste über die Wiese gekommen sein, ohne dass ich es gemerkt hatte.
    Ich lächelte ihm zu, doch ich hörte nicht auf zu lesen.
    Und ich sah, dass mein Vater stolz auf mich war, stolz, weil ich der weißen Königin vorlas. Er hasste sie nicht mehr, weil sie mir wichtig war. Er war nur stolz. Ich wünschte, Olin hätte mich hören können, um auch stolz zu sein.
    Da kam aus dem Herbsthimmel ein riesiger dunkler Schatten angesegelt und landete auf der Rückenlehne der Bank. Obwohl er eigentlich zu groß dafür war.
    »Rrri«, sagte er. »Rikikikri!«
    Ich streckte den Arm aus, und er rieb seinen gefiedertenKopf an meiner Hand, und dann stieg er wieder auf in den hellen blauen Himmel, als hätte er sich nur vergewissern wollen, dass alles in Ordnung war.
    Ich sah ihm nach, wie er sich in die Luft erhob, wie er auf dem Wind schwebte, wie er seine weiten Schwingen in die Abendluft breitete, als wäre er ein Teil dieser Luft. Riesengroß und dennoch schwerelos.
    Und vollkommen frei.
    »Habt ihr es auch gehört?«, fragte ich leise. »Da waren Worte im Flügelschlag des Adlers … Es war wie ein Wispern. Wie eine geheime Musik.«
    Mein Vater schüttelte den Kopf, und die weiße Königin schüttelte ebenfalls den Kopf.
    »Erzähle sie uns«, bat sie.
    Ich sah die weiße Königin an. Ich sah meinen Vater an. Sie warteten beide.
    Da wisperte ich die Worte, die ich im Rauschen der Schwingen gehört hatte:
    »Ich bin es, Olin.«

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