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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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auch ich trug. Bei ihm waren es die Narben von Adlerkrallen.
    »Keinem! Keinem kann verziehen werden!«, rief Olin.
    Ich legte das Gewehr auf den Boden. Ich zog den alten Pullover und das zerfetzte Hemd aus, und mein Vater sah mich an und weinte noch mehr.
    »Nein«, sagte er zwischen dem Weinen. »Keinem kann verziehen werden.«
    Und da, als er mich nicht mehr bat, ihm zu verzeihen, ging ich auf ihn zu.
    Wir umarmten uns stumm, hoch oben über dem Wasser und dem steinigen Strand, an der Kante der Klippe, nur einen Schritt entfernt vom Nichts.
    Mein Vater roch nach Tabak und Heu und Rasierseife, so wie früher, nach einer Zeit, in der ich ein Kind gewesen war, ein richtiges Kind, ohne dunkle Erinnerungen. Ich hatte ihn so vermisst.
    »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, flüsterte ich. Mein Gesicht war nass von seinen Tränen.
    »Ich habe die Schüsse gehört«, sagte er. »Du hast geübt, nicht wahr?«
    »Ja«, wisperte ich. »Mit einem Gewehr, das mir nicht gehört. Und ich bin in ein Haus eingebrochen, das mir nicht gehört.«
    »Vielleicht«, sagte mein Vater, »muss das niemand erfahren. Von mir jedenfalls nicht. Wir bekommen das alles wieder hin. Wir ersetzen alles, was fehlt, und dann verlassen wir das Haus still und leise …«
    »Es ist ein so schönes Haus«, flüsterte ich. »Es ist, als hätte jemand es für mich gemacht. Hier auf den Klippen, so nah bei den Adlern … Aber es gehört denen, die zu viel Geld haben. Immer gehört alles denen, die zu viel Geld haben. Ich hasse sie so sehr.«
    Ich glaube, mein Vater wollte etwas erwidern, doch er kam nicht dazu.
    Denn in diesem Moment stieß mein Adler seinen Warnschrei aus, und ich löste mich aus der Umarmung meines Vaters und sah auf.
    Jemand kam über die Wiese heran. Ich hatte das Motorengeräusch des Autos nicht gehört, doch da musste eines gewesen sein, denn wer da näher kam, war der Junge mit demMP3-Player. Neben ihm ging sein Vater mit raschen großen Schritten und ernstem Gesicht. Er hatte gesehen, dass die Tür offen stand. Dass sein Gewehr zu meinen Füßen lag. Ich hob es auf. Es war noch immer entsichert.
    Hinter dem Jungen und seinem Vater sah ich zwei Hunde, einen gefleckten und einen großen schwarzen. Und ich sah Malin, das kleine Mädchen, das ich vor den Wildschweinen gerettet hatte. Heute trug sie ein weinrotes Kleid über ihrer Jeans. Sie ging an der Hand ihrer Mutter, und sie sah erstaunt aus.
    Dies war das Ende. Mein Ende.
    Auf einmal wurde der Hass in mir unendlich, unglaublich, unbegreiflich groß. Ich legte das Gewehr an.
    »Du hast genug Patronen«, sagte Olin. »Es wird reichen. Du musst nur schnell sein.«
    Ich zielte auf den Kopf des Mannes. Er würde der Erste sein.
    »Nein!«, sagte mein Vater. »Um Himmels willen, Lion …«
    Da sah ich das Gewehr an, und auf einmal wusste ich nicht mehr, wozu es gut war. Es war, als hätte ich es noch nie gesehen, und mir war nicht klar, was man damit tat oder wie es in meine Hände kam.
    Ich wusste nur, dass alles unmöglich war.
    Ich würde nie in diesem Haus wohnen, in dieser wunderbaren Welt, in der die Leute wohnten, die Geld hatten. Sie würden mich einsperren für alles, was ich getan hatte, vielleicht für immer. Und ich würde meinen Adler nie wiedersehen. Ich würde nie wieder mit Olin durch die Wälder rennenund in den Wellen baden, ich würde nie wieder in einem Adlerhorst schlafen und nie wieder frei sein.
    Es gab nur einen Weg.
    Wenn man stirbt, hatte Olin gesagt, ja dann wird man wohl ein Seeadler.
    Ich musste endlich, endlich fliegen.
    Ich stand genau an der Klippe.
    Ich hörte meinen Adler seinen Schrei ausstoßen, hoch oben im blauen, blauen Himmel:
    »Rikikikriii!«
    Ich trat einen Schritt zurück.
    Ins Nichts.

16. Kapitel
    Wintermeer
    I ch trat einen Schritt zurück, und mein Adler schrie, doch ich fiel nicht.
    Mein Vater griff mich am Arm. Er zog mich wieder auf die Beine und zurück in seine Umarmung. Was fiel, war das Gewehr. Es kam unten auf dem steinigen Strand auf, und ich glaube, ich hörte, wie es zerbrach.
    Ein Schwarm Kormorane flog vom Wasser auf und zerstob zu schwarzen Punkten am Himmel. Mein Vater jedoch zog mich fort von den Klippen, dorthin, wo ich nicht mehr fallen und nicht mehr zerbrechen konnte. Ich wollte nicht fortgezogen werden. Ich wehrte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben wehrte ich mich mit aller Gewalt gegen meinen Vater, und diesmal war es nicht, weil er mir etwas tun wollte.
    Es war, weil er mich retten wollte.
    »Ich wollte ein
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