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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Adler, sah nur, dass wir miteinander rangen.
    Er sah, dass jemand seinem Jungen etwas tun wollte.
    Und er warf sich aus dem Himmel hinab, im Sturzflug jagte er auf uns zu, die Flügel angelegt, die Krallen ausgestreckt, wie er auf den schwarzen König zugejagt war, damals in der Sandgrube.
    Er war schneller als meine Gedanken, schneller als das Nachmittagslicht, schneller als mein Schrei.
    »Neeeeeein!«, brüllte ich.
    Noch während ich brüllte, zerbarst das Doppelglas der mittleren Scheibe, es war wie eine Explosion, und in einem Regen aus Splittern und Federn fiel Rikikikri mitten im Wohnzimmer zu Boden.
    Der Mann mit den Wintermeeraugen ließ mich los.
    Einen Moment lang standen wir alle ganz still, als wäre nur geschehen, was geschehen war, wenn wir uns rührten. Aber ewig ließ sich die Sekunde nicht dehnen. Ich ging durch den großen Raum auf meinen Adler zu. Er lag da wie ein überfahrenes Tier auf der Straße. Reglos. Nur eine Flaumfeder regte sich in einem Luftzug. Ich ging langsam. Jeder Schritt fiel mir schwer.
    Das Bild begann, um mich herum zu verschwimmen, denn vor meinen Augen lag ein dicker Herbstnebel aus Tränen.
    Rikikikri, mein Adler, mein bester und einziger Freund, war tot. Und ich war schuld.
    Er hatte versucht, mich zu retten, und er hatte es nicht geschafft.
    Ich war Lion, der Junge, der zu wenig Löwe war und zu viel Seeadler, der Junge, der stahl und in Häuser einbrach und Menschen verletzte.
    Man konnte mich nicht retten.
    Rikikikri war bei dem Versuch gestorben, es zu tun. Ich kniete neben ihm nieder, wie in der Kirche, obwohl ich nie in einer Kirche gekniet hatte, und ich legte meine Hand auf seinen Brustkorb. Da war kein Herzschlag zu spüren. Kein Atem. Nichts.
    Behutsam fuhr ich Rikikikri über die Lider und schloss seine gelben Adleraugen. Sie würden nie mehr aus dem Himmel spähen; sie würden nie mehr ein dummes Junges beobachten, das nicht fliegen konnte.
    Ich hörte Malin hinter mir schluchzen und drehte mich um und sah, wie ihre Mutter sie in die Arme nahm. Der Mann mit den Wintermeeraugen hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. Mein Vater presste die Lippen aufeinander, als hätte er Schmerzen.
    Der Junge mit dem MP3-Player jedoch sagte etwas. Etwas Seltsames.
    Er sagte: »Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall.«
    Einfach so, ohne jeden Zusammenhang. Ich dachte an den Tag, an dem ich Olin die Geschichte von der Linde vorgelesen hatte; es war noch nicht lange her, es war sonnig gewesen, und wir hatten vorn an der Klippe gesessen und mit den Beinen gebaumelt, was eigentlich zu gefährlich war.
    Jetzt sah ich zu Olin hinüber, die stumm und blass neben dem Jungen mit dem MP3-Player stand.
    »Komm her, Lion«, sagte sie laut und deutlich in die Stille. »Komm hierher.«
    Ich gehorchte. Ich hatte Olin immer gehorcht.
    Nein, dachte ich, das war nicht wahr. Ich hatte das Gewehr nicht abgefeuert.
    Ich stand auf und trat zurück, einen Schritt, zwei, drei … von meinem Adler fort … bis ich zwischen Olin und dem Jungen mit dem MP3-Player stand, im Kreis der stummen Menschen, der sich um den toten Adler gebildet hatte. Der Junge mit dem MP3-Player griff nach meiner Hand und drückte sie, und ich ließ es geschehen.
    Und dann löste Olin sich aus dem Kreis und ging über den Dielenboden des Wohnzimmers in die Mitte des Kreises, zu Rikikikri. Ich hörte die Dielen unter ihren abgewetzten Schuhen knacken. Im Wald, wo sie zu Hause war, dachte ich, konnte sie lautlos gehen, aber hier, in dieser Welt, die nicht ihr gehörte, konnte sie es nicht.
    Es wurde Zeit, dass sie in diese Welt zurückkehrte, in die Freiheit des Waldes.
    Neben Rikikikri blieb Olin stehen, drehte sich um und sah mich an. Es war wieder, als blickte ich in einen Spiegel, einen Spiegel, in dem ich keine Narben hatte. Aber plötzlich sah ich, dass es nicht stimmte. Auch Olin besaß zwei dünne Narben über dem einen Auge und eine in der Mitte der Unterlippe. Ich hatte es nur bisher nicht bemerkt.
    Sie blickte mir direkt in die Augen. Sie lächelte. Ich hatte sie nie mit so viel Wärme lächeln sehen. Sie hatte mir so oft geholfen, mich so oft gerettet, doch ein Stück von ihr war immer kalt gewesen, denn das Feuer der Wut, das sie in sich trug, wärmte nicht wirklich.
    Vielleicht, dachte ich, hatte ich ihr zu viele klingende Wortevorgelesen. Vielleicht konnte sie wirklich nicht mehr Olin sein.
    Sie kniete neben Rikikikri nieder, genau wie ich es getan hatte, und beugte sich über ihn – und verschwand. Sie
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