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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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gesagt: »Willkommen, mein kleiner Junge, auf der Welt. Du sollst einen großen, starken Namen bekommen, damit sie dich nicht unterkriegt, die Welt. Lion sollst du heißen, Li-Jonn Justin Torgelow. Lion ist ein englisches Wort, und es bedeutet Löwe, obwohl ich nicht weiß, wie man es auf Englisch ausspricht. Aber englische Namen sind gut, denn die Leute in Amerika, wo man englisch spricht, haben alle große Autos und viel Geld und spielen im Fernsehen mit. Wer einenenglischen Namen hat, schafft es womöglich einmal ins Fernsehen.«
    Natürlich hat meine Mutter das nicht gesagt. Ich stelle es mir nur gern vor. In meiner Vorstellung spricht meine Mutter wie die Leute in Büchern, obwohl das mit dem Fernsehen nicht in einem Buch stehen würde, das hat sie wirklich gesagt, nur auf eine andere Art und Weise. Dass sie es gesagt hat, weiß ich von meinem Vater. So wie alles, was ich über meine Mutter weiß. Das ist nicht viel.
    Ich weiß, dass sie gern getanzt hat und in derselben Woche manchmal zweimal ihre Haarfarbe änderte. Und dass sie vor meiner Geburt in der Drogerie an der Kasse saß. Ich weiß, dass sie hübsch war und jung und dass sie eine Tätowierung auf der rechten Schulter hatte, nämlich eine Rose mit Flammen. Und dass sie leben wollte, laut und fröhlich und ausgelassen. Mein Vater hat gesagt, sie wollte so sehr leben, dass es ihm Angst machte, obwohl ich nicht genau weiß, was er damit gemeint hat.
    Vor allem weiß ich, dass sie weggegangen ist. Sie ist in den Westen gegangen, wo es mehr Arbeit gibt, und mehr Autos, fast so wie in Amerika. Eines Tages, hat mein Vater gesagt, war sie einfach nicht mehr da. Nur einen Brief hat sie geschrieben. Dass sie es mit ihm in dieser Einöde hier nicht aushält.
    Über mich stand nichts in dem Brief.
    Ich habe meine Mutter nie vermisst, denn ich kannte sie ja nicht. Und ich mochte die Einöde, in der wir lebten. Es war eine wunderbare Einöde, ein Märchenland, in dem man alleserleben konnte, was man wollte. Jedenfalls dachte ich das, als ich klein war.
    Das Haus, in dem wir wohnten, hatte mein Vater von seinen Eltern geerbt. Es hatte ein Reetdach voller Moos, so als wäre ein Garten für Kobolde auf dem Dach. Denn Kobolde schlafen gern auf Moospolstern, das wusste ich von meinem Vater. Hinter dem Haus gab es einen Hof, umgeben von einer Mauer aus Lehmziegeln. In den Fugen zwischen den Ziegeln hatten die Solitärbienen ihre Löcher. Das sind Bienen, die allein wohnen, und das wusste ich auch von meinem Vater, denn er kannte sich nicht nur mit Kobolden aus. Im Sommer hörte man die Bienen in der warmen Mauer summen, als wäre sie ein einziges großes Musikinstrument.
    An einer Seite des Hofs lag ein Schuppen, in dem lebten im Winter die Ziegen. Im Sommer lebten sie im Garten, hinter dem Schuppen, zusammen mit den Hühnern. Als ich sehr klein war, fragte ich mich lange, welche der Tiere nun die Eier legten, die wir aßen.
    Im Garten wuchsen auch Kartoffeln und Erbsen und Radieschen und tausend Dinge. Die Leute in der Gegend hatten alle ihr eigenes Gemüse, denn das Gemüse in der Kaufhalle war zu teuer.
    Vor unserem Haus gab es einen breiten Sandweg mit tiefen Fahrspuren von Traktoren, und gegenüber standen die grauen Ruinen anderer Häuser. Sie hatten keine Dächer mehr, und der Holunder wuchs durch ihre Fenster hinein und wieder hinaus. Die Leute, die dort gewohnt hatten, waren weggegangen, um anderswo Arbeit und Geld zu finden.
    Mir fehlten sie nicht.
    Ich spielte in den Ruinen zwischen den Holunderbüschen und fand Schätze dort, die ich unter dem Bett sammelte: glitzernde leere Aluminiumstreifen von Tabletten, einen alten Ball, Scherben von geblümten Fliesen, Hühnerknochen, den blanken Schädel einer Katze mit beinahe allen Zähnen.
    Außer uns wohnten im Dorf nur noch ein paar alte Leute. Es gab keinen Laden und überhaupt gar nichts, nur eine Bushaltestelle. Dort stieg mein Vater jeden Morgen in den Bus zur Arbeit.
    Er war stark, mein Vater, stark wie ein Löwe, so stark, wie ich einmal werden sollte, wenn es nach meiner Mutter ging. Er arbeitete auf der Werft in der Stadt und half, die großen Schiffe zu bauen, die aufs Meer hinausfuhren, in die große, unendliche Freiheit. Aber wenn er zu Hause war, gehörte er nur mir. Dann gingen wir zusammen zum Meer und schoben das alte Holzboot durchs Schilf, um draußen auf dem Wasser zu angeln. Oder wir wanderten durch die Wälder und fanden Vogelnester und Rehkitze.
    Die Wälder waren unendlich wie das Meer, grün
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