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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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eisiger Nachtwind wehte.

15. Kapitel
    Keinem kann verziehen werden
    A ls die Sonne aufging, war mir so kalt, dass ich nicht länger schlafen konnte. Und ich dachte an einen anderen Morgen, einen Morgen im April, am Fuß einer uralten Esche, gar nicht weit fort, an dem ich genauso gefroren hatte: Alles geschah zweimal.
    Ich ging ins Haus, und es war genauso schön wie immer. Es hatte auf mich gewartet und sich gewundert, warum ich draußen geschlafen hatte; die ganze Nacht lang hatte es sich gewundert. Ich machte mir einen Tee, aber ich konnte nicht in der Schönheit des Hauses bleiben, in seinen hellen Räumen, zwischen seinen freundlichen Möbeln. Der Traum hing noch über mir, und er war zu stark. Mein Husten war wieder schlimmer geworden. Ich hörte, wie meine Lunge beim Atmen pfiff.
    Ich holte ein Buch aus dem Regal, nahm das Gewehr und ging in den Wald. Ich musste eine Weile im Wald sein, um den Traum loszuwerden. Um die Spannung loszuwerden, die über mir lag. Die Bäume hatten beinahe keine Blätter mehr. Vielleicht war schon November. Ich sah meinen Adler am Himmel, und ich wusste, dass er mich beobachtete. Er würde aufmich aufpassen, wohin auch immer ich ging: auf sein dummes zweibeiniges Junges, das nach all den Monaten immer noch nicht fliegen konnte.
    Ich rannte kreuz und quer durch den Wald, doch ich blieb in der Nähe des Hauses. Ich setzte mich auf einen Baumstamm, zog die Beine an und dehnte den alten Pullover so weit, dass ich ihn über meine Knie ziehen konnte, um nicht zu frieren. So versuchte ich zu lesen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Wenn ich laut las, blieb mir nicht genug Luft zum Atmen, und wenn ich leise las, sprangen die Worte von den Seiten und flatterten in die Luft auf. Sie konnten fliegen.
    Und schließlich ging ich zurück. Ich würde mich auf die Bank im Garten legen und in den Himmel sehen und davon träumen, dass auch ich endlich flog. Ich stieg über den Zaun und ging um das Haus herum. Der Himmel war blau und sonnig, die Luft war klar wie Glas. Vielleicht, dachte ich, war dies der letzte schöne Herbsttag vor dem Winter. Im Garten bogen sich die Zweige der Hecke und verstreuten ihre letzten Blätter im Wind.
    Alles schien etwas Letztes zu sein.
    Mein Adler flog mir entgegen, nein, er stürzte sich aus dem Himmel auf mich und landete vor mir, als wollte er mich hindern weiterzugehen.
    Und plötzlich sah ich, dass auf der Bank jemand saß. Für die Zeit eines Blinzelns dachte ich, es wäre Olin. Doch es war nicht Olin. Olin, merkte ich, stand neben mir.
    Auf der Bank saß mein Vater, der schwarze König.
    Ich nahm das Gewehr von der Schulter und lud durch. Meine Hände waren ganz ruhig.
    »Ja«, sagte Olin leise. Mehr nicht.
    Ich ging ein paar Schritte auf die Bank zu. Rikikikri ging neben mir her wie ein Hund.
    Da drehte der schwarze König sich um.
    Seine Augen sahen nicht so eingefallen aus wie beim letzten Mal, als ich ihm begegnet war. Aber er war noch immer blass.
    »Lion«, sagte der schwarze König. Er sprach mit der Stimme meines Vaters. Ich tat so, als hörte ich das nicht. »Lion, hab keine Angst.«
    In meiner Kehle machte sich ein wildes Lachen breit. Ein vergiftetes Lachen.
    Lion, hab keine Angst!
    »Nein«, antwortete ich. »Ich habe keine Angst.« Und ich legte das Gewehr an und entsicherte es. »Du bist es, der Angst hat.«
    Der schwarze König stand auf und streckte eine Hand aus.
    »Komm nicht näher!«, rief ich. »Keinen einzigen Schritt!«
    Er kam nicht näher. Ja, er hatte Angst. Ich sah es in seinen Augen. Da waren keine roten Ränder um diese Augen. Aber ich konnte mich täuschen.
    »Bist du wirklich?«, fragte ich. »Oder bist du eine Erinnerung? Ein Albtraum?«
    Doch die Mittagssonne schien zu hell auf den schwarzen König und sein Schatten fiel zu scharf auf das Gras, als dass ereine Erinnerung hätte sein können. Er war wirklich, so wirklich wie ich.
    »Lion«, wiederholte er.
    »Was für ein dummer Name«, sagte ich. »Ich bin nie ein Löwe gewesen. Ich werde nie einer werden. Wenn ich je etwas werde, dann ein Adler.«
    Der schwarze König nickte langsam.
    »Ein Adler wie der, der mich angegriffen hat.«
    »Ich dachte, er hätte dich getötet.«
    »Nein. Er hat mich nur verletzt.«
    In diesem Moment erhob sich Rikikikri in die Luft, ich sah ihn mit seinen riesigen Schwingen schlagen und auf den schwarzen König zufliegen.
    »Nein!«, rief ich. »Rikikikri!«
    Aber mein Adler war kein Hund. Würde er mich verstehen? Würde er verstehen,
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