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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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du ja gemerkt. Ich werde dir vorlesen. Den ganzen Herbst und den ganzen Winter durch. Wir können ein Feuer im Kamin machen, wenn es kalt wird, denn es ist unser Haus, und dann setzen wir uns aufs Sofa und ich lese dir vor, alle Bücher, eins nach dem anderen.«
    Sie nickte langsam. »Aber ich weiß nicht …«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, ob ich Olin bleiben kann, wenn du mir vorliest. Und wenn ich nicht mehr Olin sein kann, kann ich womöglich gar nicht mehr sein …«
    Es klang, als hätte sie Angst, und deshalb bekam ich auch Angst. Ich wollte sie fragen, wie sie das meinte, doch ich schwieg.
    Ich fühlte ihre Hand im Dunkeln, die sich um meine schloss.
    »Lies mir trotzdem vor«, wisperte sie. »Lies mir gleich morgen weiter vor.«
    Und ich nickte.
    Olin war nicht immer da, sie verschwand zwischendurch, und ich wusste, dass das sein musste. Auch Rikikikri verschwand und tauchte wieder auf. Sie brauchten ihre Freiheit, sie brauchtenZeit für sich. Zum ersten Mal dachte ich, dass ich keinen von ihnen wirklich vollkommen gezähmt hatte und dass ich das auch gar nicht wollte.
    Ich war glücklich in meinem Haus auf den Klippen. Ich lüftete das ganze Haus, und ich räumte alles wieder auf, was ich benutzt hatte, denn ich wollte, dass es schön dort blieb. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass ich das Haus irgendwann wieder verlassen musste. Immer, wenn ich doch daran dachte, begann ich wieder, den Jungen mit dem MP3-Player zu hassen, und seinen Vater, und alle Leute, die Geld hatten.
    In der untersten Küchenschublade fand ich in einer Teetasse einen Schlüssel, und ich dachte an den Schlüssel zum Schrank mit dem Gewehr meines Vaters, den er an einem ähnlichen Ort versteckt hatte. Da fiel mir wieder ein, dass der Besitzer dieses Hauses auf die Jagd ging. Der Schlüssel in meiner Hand war vielleicht der Schlüssel zu einer Tür, hinter der sein Gewehr stand.
    Die Vorräte in der Tiefkühltruhe gingen zur Neige, die Dosen wurden weniger, und irgendwann würde mir gar nichts anderes übrig bleiben, als hinauszugehen und Hasen zu schießen. Spätestens wenn der Winter kam.
    Schließlich gab es nur noch einen Platz, an dem ich nicht nach dem Gewehr gesucht hatte. Den Keller. Ich zögerte. Ich wollte wirklich nicht in den Keller gehen. Wenn die Tür zufiel, wenn sie klemmte, wenn das Licht ausging … dann würde die Erinnerung an den schwarzen König in der Dunkelheit lauern, das wusste ich.
    Ich knipste alle Lichter im Erdgeschoss an. Ich holte RikikikrisFeder aus dem Netz im Badezimmer. Ich nahm ein Küchenmesser in die Hand. Dann stieg ich die Kellertreppe hinunter. Unten machte ich auch das Licht im Keller an. Doch in den Ecken blieben Schatten kleben, die ich mir nicht genau ansehen wollte. Im ersten und im zweiten Kellerraum war kein Waffenschrank. Es waren noch mehr Vorräte dort, und ich dachte, dass ich vielleicht doch keine Kaninchen schießen musste. Doch jetzt war ich so weit gekommen, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Der Schweiß lief mir in kleinen Bächen über den Rücken, aber ich musste den Schrank finden. Vielleicht, dachte ich, kann ich dann die Erinnerung loswerden. Vielleicht habe ich dann keine Angst mehr vor Kellern.
    Und der Hass begann wieder in mir zu wachsen, während ich weiterging. Ich hasste den Vater des Jungen mit dem MP3-Player dafür, dass er sein Gewehr so gut verbarg. Dass er mich zwang, so tief in seinen tiefen Keller hineinzugehen.
    Beinahe dachte ich, er hätte vielleicht doch keinen Waffenschrank in diesem Haus. Er hatte einen. Ich fand ihn im hintersten, letzten Kellerraum. Er war aus grauem Metall. Ich musste den Schlüssel zweimal herumdrehen, ehe die Tür aufsprang. Und dort standen sie – drei Gewehre, eine Flinte und zwei Büchsen, glänzend poliert. Ich nahm eine der Büchsen heraus. Ich strich über ihren Lauf und fühlte mich auf einmal mächtig. Ich hatte es geschafft. Und ab jetzt war ich bewaffnet. Ich konnte die Erinnerung an den schwarzen König erschießen, wenn sie mir zu nahe kam.
    Ich fand auch eine Menge Munition im Schrank, die ich einsteckte. Danach verschloss ich ihn wieder, zweimal, sehrsorgfältig. Dann ging ich durch die Kellerräume zurück. Die Schatten waren zaghafter geworden. Ich stieg die Treppe hinauf, machte die Kellertür zu und atmete tief durch.
    An diesem Nachmittag las ich nicht. Ich übte Schießen. Ich fand ein Stück Pappe in einem Karton voll Altpapier; ich fand einen Stift und malte eine Zielscheibe darauf, und ich
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