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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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sehen, im Garten, auf einer Schaukel. Die Person, die die Schaukel anschubste, hatte weiße Haare und lächelte. Es war die weiße Königin. Meine weiße Königin.
    Der Hass stieg wieder in mir hoch. Ich beschloss, das Zimmer nie wieder zu betreten, den ganzen Herbst und den ganzen Winter über nicht, denn ich wollte einen schönen Winter haben in meinem Haus.
    Aber ehe ich die Tür hinter mir schloss, sah ich die Bücher. Sie standen auf einem Regal in der Ecke, Rücken an Rücken – ein Wald aus Büchern, genau wie in dem Laden, in dem ich die richtigen Worte gesucht hatte. Ich streckte meine Hand aus, zögernd. Sie würden mich enttäuschen, diese Bücher. Ich würde die Worte wieder nicht finden. Sie waren im Buch der Tierärztin gewesen, und dieses Buch hatte ich endgültig verloren, als ich mit der Flasche um mich geschlagen hatte.
    Ich blinzelte die Erinnerung weg.
    Ich zog ein Buch aus dem Regal. Es war kühl und glatt in meinen Fingern, wie das Leder des Sofas. Ich schlug es auf und las eine Zeile, meine Augen waren das Lesen nicht mehrgewöhnt, und es war mühsam, die Worte zu entziffern. Ich las laut, damit es meinen Augen leichter fiel.
    Und dann geschah es, las ich. Etwas Seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem grünen Schild: Die Brüder Löwenherz. Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich plötzlich dort stand …
    Ich sah von dem Buch auf und schüttelte den Kopf. Ja, etwas Seltsameres hatte auch ich nie erlebt. Hier waren sie, die Worte. Es waren Worte, die ich verloren hatte, ich hatte mich nicht mehr an sie erinnert, aber jetzt tat ich es – jetzt wusste ich wieder, dass die weiße Königin sie gelesen hatte. Und eigentlich war das gar nicht erstaunlich, sondern logisch, dachte ich, denn sie war in diesem Haus gewesen, irgendwann.
    Ich nahm das Buch mit hinunter ins Wohnzimmer, weil es draußen regnete, und ich begann noch einmal von vorn und las es bis hinten durch. Ich brauchte den ganzen Tag dafür und ein gutes Stück vom nächsten Tag. Als die Sonne herauskam, zog ich mit dem Buch um auf die Bank, ich las und las und las, und die Worte füllten meinen Kopf. Es war ein unglaublich spannendes Buch, von einem Jungen, der tausendmal mehr Abenteuer erlebte, als ich es in diesem Sommer getan hatte. Zum Schluss starb er, und das war so traurig, dass ich sehr oft schlucken musste. Aber eigentlich war es überhaupt nicht traurig, denn in dem Buch kam er in ein anderes Land, wo es viel schöner war.
    Er wurde kein Seeadler.
    Ich dachte, jeder könnte sich wohl selbst aussuchen, was mit ihm geschehen würde, wenn er tot wäre. Ich würde ein Seeadler sein.
    Ich sah auf, und da saß Olin neben mir auf der Bank. Sie musterte mich mit gerunzelter Stirn.
    »Wo warst du den ganzen Tag?«, fragte sie.
    »Wieso? Ich war hier«, sagte ich und klappte das Buch behutsam zu.
    »Oh nein«, sagte Olin. »Du warst nicht hier. Du warst weit weg. Ich sitze schon eine Weile hier, und du hast mich nicht einmal bemerkt. Bist du wieder gesund?«
    »Nein«, antwortete ich und hustete. »Doch. Ich weiß nicht.« Und ich streckte ihr das Buch entgegen. »Es ist egal, ob ich gesund bin. Ich habe die Worte gefunden.«
    Olin knurrte. »Na, dann brauchst du mich ja wohl nicht mehr«, meinte sie.
    Da lachte ich und rannte ins Haus, rannte nach oben und holte ein anderes Buch aus dem Regal, denn auf einmal war ich mir sicher, dass all diese Bücher voll klingender Worte waren. Es war nicht die gleiche Person, die alle diese Bücher geschrieben hatte, und als ich das nächste Buch aufschlug, klangen die Worte anders, doch sie klangen. Ich lief wieder hinunter und begann einfach, Olin vorzulesen. Es war eine Geschichte von einem Jungen, der im Wald lebte, so wie sie es tat – obwohl es ein Wald in Indien war –, und da musste sie wohl zuhören. Sie hörte zu. Sie hörte zu, bis es dunkel wurde.
    Da klappte ich das Buch zu.
    »So ist das also«, sagte Olin. »Mit den Worten.«
    »Ja«, sagte ich, »so ist das mit den Worten.«
    Wir schwiegen eine Weile. Irgendwo in der Dunkelheit, ganz nah, rauschten die Flügel eines großen Vogels, der nach Hause flog.
    »Ich kann nicht lesen«, murmelte Olin schließlich.
    »Das macht nichts«, sagte ich. »Ich kann lesen. Ich war nur auf der Förderschule, und ich habe die Vierte zweimal gemacht, aber lesen kann ich, das hast
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