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Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten
Autoren: Thomas Cahill
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Vorwort
    Wie wirklich ist Geschichte?

    Das Wort irisch wird nur selten mit dem Wort Zivilisation in Verbindung gebracht. Wenn wir an zivilisierte oder zivilisierende Völker denken, fallen uns vielleicht die Ägypter und die Griechen ein, die Italiener und die Franzosen oder die Chinesen und die Juden. Die Iren dagegen sind wild, schwächlich und charmant oder auch verdrießlich, unterdrückt und korrupt, aber nicht eben zivilisiert. Wenn wir ange-strengt an die »irische Zivilisation« denken, erscheint kein Bild in unserem Kopf, kein Fruchtbarkeits-Halbmond oder Indus-Tal, keine
    Büste eines nachdenklichen Beethoven. Der einfachste griechische
    Kfz-Mechaniker nennt seine Werkstatt »Parthenon« und stellt auf
    diese Weise eine Verbindung zwischen sich und einer imaginierten
    alten Kultur her. Ein halbwegs belesener Restaurator sizilianischer Abstammung wird seiner Gipskopie von Michelangelos David stolz den Ehrenplatz geben und auf diese Weise seine angenommene
    Verbindung zur Renaissance geltend machen. Doch ein irischer Ge-
    schäftsmann nennt sein Geschäft eher »The Breffni Bar« oder »Kelly’s Movers« und verweist damit auf eine rein lokale oder persönliche
    Verbindung, die vom Echo der Geschichte oder der Zivilisation unbe-rührt ist.
    Und doch... Irland, eine kleine Insel am Rande Europas, die weder Renaissance noch Aufklärung kannte – in mancher Hinsicht ein
    Dritte-Welt-Land mit Steinzeitkultur, wie John Betjeman behauptete –, erlebte einen Moment ungetrübter Glorie. Denn als das Römische
    Reich fiel, als verfilzte, ungewaschene Barbaren in die römischen Städte ganz Europas einfielen, Kunstschätze plünderten und Bücher verbrannten, da unternahmen die Iren, die eben erst Lesen und
    Schreiben lernten, die große Anstrengung, die gesamte westliche
    Literatur zu kopieren – und zwar alles, was sie in die Finger bekamen.
    Dank dieser Schriften konnten die gräko-lateinische und die jüdisch-christliche Kultur schließlich den Stämmen Europas übermittelt

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    werden, die sich inmitten der von ihnen selbst verschütteten und
    zerstörten Weinberge der Zivilisation niedergelassen hatten. Ohne diesen Dienst der Schreiber wäre alles, was danach geschah, undenkbar gewesen. Ohne die Mission der irischen Mönche, die allein in den Buchten und Tälern ihres Exils die europäische Zivilisation auf dem Kontinent begründeten, wäre die Welt, die nach ihnen kam, eine
    vollkommen andere geworden: eine Welt ohne Bücher. Und unsere
    Welt hätte niemals existiert.
    Seit tausend Jahren – seit die spartanische Legion vor den heißen Toren der Thermopylen untergegangen war – hatte die westliche
    Zivilisation nicht eine solche Prüfung bestehen, solch einen Schick-salsschlag hinnehmen müssen, noch sollte sich eine solche Auslö-
    schung wiederholen, bis sie in diesem Jahrhundert die Mittel ersann, alles Leben auszurotten. Unsere Geschichte setzt zu Beginn des fünften Jahrhunderts ein, und da konnte niemand den Zusammenbruch
    voraussehen. Doch die vernünftigen Männer aus der zweiten Hälfte
    des Jahrhunderts, die die Lage ihrer Zeit untersuchten, zweifelten nicht: Ihre Welt würde untergehen. Man konnte nichts anderes tun als
    – wie Ausonius – in seine Villa zurückkehren, Gedichte schreiben und auf das Unvermeidliche warten. Es kam ihnen niemals der Gedanke,
    daß die Bausteine ihrer Welt durch fremdländische Sonderlinge
    gerettet werden könnten, die aus einem Land stammten, welches so
    uninteressant war, daß die Römer es noch nicht einmal hatten erobern wollen – von seltsamen Männern, die im Gebirge in Hütten lebten,
    sich die Köpfe halb kahl schoren und sich selbst mit Fastenzeiten, Kälte und Nesselbädern quälten. Wie Kenneth Clark sagt: »Blickt man von den großen Zivilisationen eines Frankreichs im zwölften Jahrhundert oder eines Roms im siebzehnten Jahrhundert zurück, dann
    kann man kaum glauben, daß das westliche Christentum eine ziem-
    lich lange Zeit – beinahe hundert Jahre – überlebte, indem es sich an Orte wie Skellig Michael klammerte, einen Felsgipfel, der achtzehn Meilen von der irischen Küste entfernt über zweihundert Meter hoch aus dem Meer ragt.«
    Clark, der sein Buch Civilisation mit einem Kapitel über die schwierige Übergangszeit zwischen klassischem Altertum und Mittelalter
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    beginnt (»The Skin of Our Teeth«), bildet insofern eine Ausnahme, als er der Leistung der Iren ihren vollen Wert beimißt. Viele Historiker erwähnen sie überhaupt nicht,
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