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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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hängte die Zielscheibe in den Jasminstrauch am äußersten Ende des Gartens.
    Ich hatte das Gewehr meines Vaters nie in den Händen gehabt.
    Er hatte mir verboten, es anzufassen.
    Aber ich hatte zugesehen, wie er es lud, wie er es entsicherte, wie er zielte, wie er schoss; viele, viele Male, jahre- und jahrelang. Ich kannte jeden Handgriff. Beim ersten Schuss traf ich nicht einmal die Zielscheibe. Nur die Spatzen flogen erschrocken aus der Hecke auf. Ich lauschte dem Nachhall des Schusses und erschrak selbst darüber, wie laut er war. Aber es war niemand in der Nähe. Das Haus auf den Klippen lag im Nichts, am Ende eines holprigen Weges, umgeben von Feldern und Wäldern. Bis nach Wehrland war es weit.
    Der zweite Schuss traf die Scheibe. Am Abend traf ich ins schwarze.
    »Ich hab es ja gewusst: Du lernst schnell«, sagte Olin neben mir.
    »Hey«, sagte ich und grinste. »Hallo.«
    »Gibt es heute keine klingenden Worte?«, fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Morgen wieder.«
    »Warum übst du Schießen?«
    Ich legte das Gewehr auf den Boden. »Es kann ja nicht schaden. Stell dir vor, meine Angst vor Kellern ist beinahe weg. Vielleicht muss ich einen Strick finden und ihn ganz und gar mit dem Gewehr zerlöchern. Und vielleicht auch eine Holzleiste und ein paar Flaschen.«
    Olin schüttelte den Kopf. Doch sie lächelte.
    »Die Wut ist immer noch da, in dir«, sagte sie. »Ich hatte schon befürchtet, sie wäre verloren gegangen in all den klingenden Worten. Aber du hast sie noch: die Wut und den Hass. Vergiss sie nicht.«
    Ich vergaß sie nicht.
    Die Adler waren fortgeflogen, als sie die Schüsse gehört hatten, und sie kamen erst nach und nach zurück. An diesem Abend saß ich lange auf der Bank vor den Klippen, ohne Olin. Ich hatte ein Buch auf dem Schoß, aber ich schlug es nicht auf. Meine Augen waren müde vom Zielen.
    Rikikikri landete neben mir auf der Bank, ich legte einen Arm um ihn, und wir sahen gemeinsam zu, wie der Himmel über dem Wasser dunkler wurde.
    Es war kalt, und ich trug eine Jacke des Jungen mit dem MP3-Player.
    »Wenn es irgendwann schneit«, flüsterte ich, »dann gehe ich hinaus in den Wald und erlege Wild für dich und die anderen Seeadler. Ich lasse euch nur die Teile im Wald, in denen kein Blei ist. Ihr werdet nicht hungern in diesem Winter.«
    »Rrri«, sagte Rikikikri ganz leise und legte seinen Kopf an meinen.
    »Wäre es nicht wunderbar, wenn wir immer und immer soleben könnten?«, flüsterte ich. »Wenn ich immer ganz nahe bei euch sein könnte, hier auf den Klippen, und doch ein Dach über dem Kopf hätte? Wenn der Junge mit dem MP3-Player und seine Familie nie, nie wiederkämen? Nur das Bild der weißen Königin über dem Sofa würde uns Gesellschaft leisten, und sie wäre für immer meine weiße Königin, meine ganz allein.«
    »Rrri«, wiederholte Rikikikri. Es klang traurig, doch ich wusste nicht, wieso.
    Es klang wie ein Abschied.
    In dieser Nacht schlief ich mit dem Gewehr neben mir auf dem Sofa.
    Ich träumte von der Zielscheibe im Garten. In meinen Träumen blühte der Jasmin, und ich traf jedes Mal ins schwarze. Doch plötzlich packte mich jemand an der Schulter. Ich fuhr herum und ließ das Gewehr fallen. Es war der Mann, dem das Gewehr gehörte.
    »Du hast es gestohlen«, sagte er leise. »Das Gewehr. Und das Haus. Die Bücher. Die Schönheit. Das Glück. Es gehört dir nicht. Du bist ein Nichts. Ein Dieb. Ein Mörder. Der schwarze König kann dich nicht mehr bestrafen, denn er ist nur eine Erinnerung. Aber ich, ich bin wirklich. Ich kann dich bestrafen.«
    Er hielt einen Strick in der Hand, doch es war kein gewöhnlicher Strick. Er war gespickt mit den winzigen Splitterscherben einer Saftflasche; ich sah ihre scharfen Kanten glitzern.
    »Zieh das Hemd meines Sohnes aus«, sagte der Mann, »und knie dich da hin.«
    Ich erwachte schwer atmend.
    Ich setzte mich auf dem Sofa auf.
    Ich zitterte am ganzen Körper.
    Die langen weißen Vorhänge vor der Fensterwand bewegten sich in einem Lufthauch. Draußen schien der Mond. Ich umklammerte mit beiden Händen das Gewehr.
    »Hallo?«, fragte ich. »Ist jemand hier?«
    Niemand antwortete. Doch ich hielt es nicht mehr aus in jenem Haus, das niemals mir gehören konnte. Ich streifte die Kleider des Jungen mit dem MP3-Player ab und zog meine alten Sachen wieder an. Dann nahm ich die Decke und ging nach draußen, und dort schlief ich in dieser Nacht, an der Hauswand zusammengekauert, das Gewehr neben mir, obwohl ein
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