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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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Augen.
    Er hatte eisgraue Augen, nicht braun wie seine und meine Mutter. Vielleicht die Augen seines Vaters, den ich nie kennen gelernt hatte? Sie schauten mich aufmerksam an, klar und fest. Was mich jedoch am meisten verunsicherte, war das Gefühl, dass er mit diesen Augen sehr tief in mich hinein zu blicken schien. Fast bis auf den Grund meiner Seele. Als ich endlich seine ausgestreckte Hand ergriff, ihren kräftigen Druck spürte und dazu seinen Blick erwiderte, durchlief mich plötzlich ein angenehmes, erregendes Prickeln, von den Fingerspitzen über den Brustkorb bis in die Haarwurzeln.
    Oh Gott, was war nur mit mir los?
    Tante Melanie ließ uns keine Zeit mehr zum Plaudern, was mir erst einmal recht war. Sie dirigierte uns zum Auto und setzte sich zu mir in den Fond, während Christoph das Steuer übernahm. Souverän manövrierte er uns durch den Feierabendverkehr. Die Hitze im Wagen war fast unerträglich. Binnen Minuten war ich völlig durchgeschwitzt. Tante Melanie strapazierte meine ohnehin schon überreizten Nerven derweilen mit einer Gratisstadtführung, plauderte über das Wetter und die Münchner und gab Christoph Anweisungen, wie er zu fahren hätte. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass der das auch allein sehr gut hinbekam. Ein bisschen beneidete ich ihn darum wie um seine Geduld mit dem schier unendlichen Redeschwall seiner Mutter. Er sagte nichts, warf nur gelegentlich einen amüsierten Blick in den Rückspiegel und brummte zustimmend.
    Endlich ließen wir die erdrückende Betonwüste der Innenstadt hinter uns und erreichten gediegenere Wohnviertel mit kühlen, schattigen Alleen und Reihenhäusern aus Backsteinen. In einem von ihnen wohnten die beiden, eine Doppelhaushälfte mit Gärtchen und Terrasse. Christoph fuhr den Wagen in die Einfahrt und unterbrach den Redeschwall seiner Mutter trocken: „Ende der Rundreise. Bitte alle aussteigen.“
    Ich kletterte aus dem Fond und streckte meine müden Glieder. Das T-Shirt klebte an meinem Körper und zeichnete jeden einzelnen Knochen, jeden Muskelstrang überdeutlich nach. Als ein kühler Windstoß gegen meinen Körper fuhr, hätte ich es mir am liebsten sofort vom Leib gerissen. Aber anstandshalber hob ich es nur halb an und ließ die Luft um Bauch und Rücken spielen. Christoph sah kurz zu mir herüber, neugierig und beinahe wie prüfend, dann grinste er und trug mein Gepäck ins Haus.
    Das Haus war sehr geräumig und gemütlich. Bei uns zu Hause herrschte penible Sauberkeit und Ordnung, die Möbel vermittelten steife Eleganz, die Couchecke Sterilität. Dort hielt man sich auf. Hier dagegen wirkte das Mobiliar bunt zusammengewürfelt, ohne einen bestimmten Stil einzuhalten. Dennoch schien alles in einem durchgeplanten Chaos harmonisch aufeinander abgestimmt zu sein. Hier wurde gewohnt, gelebt.
    Im Erdgeschoss lagen die Küche mit Esszimmer und dahinter noch eine kleine, gemütliche Wohnecke mit Kamin, Melanies Schlafzimmer und ein Bad. Im Obergeschoss war Christophs Reich: eine Art zweites großes Wohnzimmer, noch ein Bad und Christophs Schlafzimmer. Mangels eines separaten Gästezimmers sollte letzteres mein vorübergehendes Zuhause werden, denn es lag nach hinten raus, abgeschottet von allem anderen. Christoph würde auf dem ausgezogenen Couchbett in seinem Wohnzimmer schlafen. Das war zwar nicht sonderlich bequem, aber so konnte er, ohne mich zu stören, seine Bibliothek und seinen PC benutzen, die sich ebenfalls im oberen Wohnzimmer befanden.
    Erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen. Es roch wunderbar frisch, der Raum war gut gelüftet und abgedunkelt, herrlich kühl nach der unglaublichen Hitze draußen. Eigentlich wollte ich einfach nur für ein paar Minuten die Augen schließen und abschalten. Aber nach einer Weile wurde ich neugierig. Schließlich war ich hier im Zimmer meines Cousins, von dem ich kaum etwas wusste. Und wenn man etwas über das Leben einer Person erfahren wollte, dann begann man doch wohl am besten dort, wo es tagtäglich stattfand. Also sah ich mich vorsichtig, aber höchst interessiert um: vom Bett aus konnte ich aus dem Fenster auf den Garten hinaussehen. Am Fußende des Bettes stand ein großer Kleiderschrank aus Kiefernholz. Dem Bett gegenüber befand sich ein riesiger Schreibtisch. Der war eigentlich viel zu groß für dieses Zimmer, und irgendwie war das auch kein richtiger Schreibtisch. Ich schaute mir die Konstruktion genauer an. Offenbar konnte man die Tischplatte verstellen, in sämtliche Richtungen, wie ich
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