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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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„Kannst du nichts mit Mädchen anfangen? Hast du sie nicht richtig festgehalten? Ist sie dir zu weich? Bist du zu weich?“
    Als ich zu Hause die Gartentür zuknallte, war mir schlecht – vor Anstrengung, Aufregung und Enttäuschung.
    Mein bester Freund!
    Machte sich über mich lustig!
    Plauderte meine intimsten Geheimnisse aus!
    Ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel!
    Ich kotzte in Mutters Blumenbeet. Egal, ich würde mich morgen dafür entschuldigen. Matt schleppte ich mich ins Haus, in mein Zimmer, auf mein Bett. Die Bettdecke über den Kopf ziehen und den Verstand wie die Nachtischlampe ausschalten war das einzige, was ich noch zustande brachte.
    Die Nacht war voll von Isabel, Felix und dem Gelächter der Brünetten. Am nächsten Tag gab es die Giftblätter, und ich ging damit nach Hause, ohne Felix, ohne Isabel, ohnmächtige Wut im Herzen statt Schmetterlinge im Bauch.
     
    Nun stand ich hier im engen Gang des Zugwaggons und schaute zu, wie der ICE in den Hauptbahnhof München einfuhr. Die Waggontür öffnete sich auf Knopfdruck automatisch, und augenblicklich schlug mir die Hitze vom Bahnsteig unangenehm ins Gesicht. Am liebsten hätte ich wieder Kehrt gemacht und mich in dem vollklimatisierten Abteil weiter bis nach Nirgendwo chauffieren lassen. Aber die anderen Passagiere hinter mir drängten ungeduldig nach draußen. Also schulterte ich meinen Rucksack und kletterte die unpraktisch hohen Stufen hinunter auf den Bahnsteig.
    Dort herrschte ein unglaubliches Gewusel. Die eine Menschenlawine wälzte sich unaufhaltsam brutal in Richtung der Rolltreppen, ein Gegenstrom presste sich gegen die Haut der Zugschlange, an deren Türen er wie an durchlässigen Poren versickerte. Wie sollte ich in diesem Hexenkessel Tante Melanie finden?
    Im selben Moment hörte ich jemanden meinen Namen rufen: „Jann? Jann, hier! Hier bin ich!“ Eine Frau in weißen Caprihosen und bunt karierter, vor dem schlanken Bauch zusammengeknoteter Bluse kämpfte sich energisch durch das Gewühl. Immer wieder sah ich ihren gelben Strohhut zwischen den Menschenmassen hindurchleuchten.
    Im ersten Augenblick dachte ich, es wäre meine Mutter: die gleiche zierliche Figur; der gleiche feste, sichere Schritt trotz des Slaloms, den sie veranstalten musste, um zu mir zu gelangen; das gleiche warme Lachen in den braunen Augen, als sie mich erreichte. Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich, es waren ja nur zwei Jahre Altersunterschied zwischen ihnen. Aber meine Mutter hätte nie ihre Bluse bis fast zum Busen hochgeknotet – auch nicht bei den aktuell vorherrschenden fast 30°C im Schatten. Oder hätte sie es vielleicht getan, wenn sie nicht meinen Vater kennen gelernt hätte?
    Ich fand keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn Tante Melanie hatte mich jetzt erreicht, ergriff meine artig ausgestreckte Hand und zog mich daran in ihre Arme. Auch das hätte Mutter sicher nie getan, jedenfalls nicht mitten auf dem Bahnsteig und mit ihrem Neffen wohl schon gar nicht. Mein Rucksack glitt mir von der Schulter zu Boden und mein um die Hüften geknoteter Pullover ebenfalls. Ich wollte beides aufheben, aber Tante Melanie hielt mich fest und musste erst einmal ihren Begrüßungsschwall loswerden, von wegen, wie gut ich aussähe, und wie sehr ich gewachsen sei in den letzten zwei Jahren.
    Dabei wusste ich selbst sehr genau, dass ich trotz der Sommersonne der letzten Wochen ziemlich blass und fertig aussah und mich lediglich um fünf Zentimeter gestreckt hatte. Mit meinen eins siebzig war ich einer der kleineren Jungen in meiner Klasse. Sogar Felix überragte mich um ein paar Zentimeter. Bei dem Gedanken an ihn spürte ich wieder diesen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Na ja, damit musste ich wohl nun leben.
    Endlich ließ Tante Melanie mich los. Aber bevor ich dazu kam, meine Sachen aufzuheben, kam mir jemand hinter mir zuvor. Zwei warme Hände mit erstaunlich schlanken Fingern legten mir meinen Pullover um die Schultern, und der Rucksack verschwand aus meinem Blickfeld. Ich drehte mich um. Hinter – jetzt vor – mir stand mein Cousin. Er kämpfte gerade mit dem Trageriemen des Rucksacks über seiner Schulter, der wohl einige seiner noch immer langen Haare eingeklemmt hatte.
    „Hi, Jann“, presste er hervor. Schließlich hatte er seinen dunkelblonden Pferdeschwanz wieder befeit, schwang ihn elegant auf den Rücken und streckte mir seine Hand entgegen. Da er nur ein bisschen größer war als ich, sah er mir für einen Moment direkt in die
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