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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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Entwurf verfolgen konnte. Er hatte bereits ein mehrwöchiges Praktikum auf einer Baustelle absolviert, was eine Studienvoraussetzung war. In den letzten Wochen bis zu seiner Abreise in einem Monat arbeitete er in einem Architekturbüro.
    Ich schüttelte ungläubig den Kopf: „Ich dachte, du machst Ferien und ruhst dich aus?“
    Tante Melanie lachte: „Das dachte ich auch, aber was das Studium angeht, da ist dein Cousin nicht zu bremsen. Immer mit Volldampf voraus, keine Minute verlieren und vor allem keine Gelegenheit auslassen, um zu lernen und zu schaffen!“
    Christoph wehrte entschieden ab: „Komm, Mama, so ein Streber bin ich nun auch wieder nicht. Ich versuche halt nur, immer mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und meine Chancen so gut wie möglich zu nutzen. Jede, die sich mir bietet.“ Er blickte zu mir herüber, und ich nickte ihm zu. Das war doch okay! Das Studium passte irgendwie zu seiner Persönlichkeit: manchmal war er verspielt und phantasievoll wie ein Fresko an einem Säulenkapitel, und dennoch wirkten sein Wesen und seine Vorstellungen auf mich klar und solide strukturiert wie der Grundriss einer jeden Kirche. „Aber jedes Gebäude“, raunte mir Christoph mit geheimnisvoller Stimme zu, „birgt wie jedes Kunstwerk tief in sich seine eigenen Geheimnisse. Für die meisten Betrachter bleiben sie unsichtbar im Verborgenen. Eigenarten in seiner Konstruktion und seinem Bau, Geheimnisse seiner Geburt, seines Wachstums, seiner eigenen Geschichte. Nur wenn man sich für die Sache wirklich interessiert, sich darauf einlässt, sich öffnet, kann man einen Blick hinter die Fassaden werfen, durch das Gemäuer hindurchsehen, ihm die Geheimnisse sanft entlocken, die es birgt. Ein Gebäude ohne Schlüssel öffnen zu können, etwas zu verstehen und zum Sprechen zu bringen, was eigentlich stumm scheint und doch soviel zu sagen hat, das bedeutet für mich Architektur.“ Den tieferen Sinn seiner Worte sollte ich erst einige Zeit später begreifen.
    In vier Wochen sollte es nach Montreal gehen, wo er ein Semester an der School of Architecture studieren wollte. Die gehörte, wie er mir erklärte, zur McGill University. Ich war schwer beeindruckt: von seinem Elan, seiner Begeisterung für die Sache und vor allem von seinem Mut, für eine so lange Zeit so weit fortzugehen. Ein bisschen beschämt räumte ich ein, dass ich selbst mir das nicht zutrauen würde,  noch nicht jedenfalls.
    „Das Gefühl habe ich auch“, meinte Tante Melanie. „Entschuldige bitte, Jann, aber du machst irgendwie den Eindruck, als wüsstest du zur Zeit überhaupt nicht, was du dir zutrauen willst“. Sie nippte an ihrem Weinglas. Nervös blickte ich auf meine Fingerspitzen in meinem Schoß und dachte an die Ereignisse der letzten Wochen. Wenn sie gewusst hätte, wie Recht sie hatte.
    „Du bist so unruhig, so  nervös und ziellos. Was hast du eigentlich vor in den nächsten Wochen? Hast du dir für deine Ferien schon etwas überlegt?“ Ihr Ton war freundlich, nicht lauernd oder misstrauisch, wie ich das bei solchen Fragen von meinem Vater gewohnt war. Ich horchte in mich hinein. Hatte ich etwas geplant? Hätte ich es getan, wenn nicht ...? Spontan folgte ich einer Eingebung: „Hmm, ich würde gerne irgendwo arbeiten, ein bisschen Geld verdienen, ich weiß nicht ...“
    Tante Melanie nickte. „Was meinst du, was dich interessieren würde?“
    „Bücher.“ Das platzte so spontan aus mir heraus, dass ich selbst darüber erschrak. Aber es stimmte. Bücher waren meine Leidenschaft, die Sprache mein Lebenselixier. Ich las, was ich in die Finger bekam und war doch immer hungrig nach neuen Geschichten über alles, worüber sich berichten ließ. Christophs Bibliothek hatte ich längst inspiziert, alte Bekannte und auch viel Neues in seinen Regalen gesehen und mir insgeheim schon eine Liste angelegt, um welche Bücher ich ihn leihweise bitten wollte.
    Tante Melanie lächelte: „Nun, es sollte nicht schwer sein, bei uns in der Bibliothek einen Praktikumsplatz für dich zu finden. Da ist aufgrund der Ferienzeit sowieso gerade Mangel an Hilfspersonal. Oder in dem Buchladen in der Innenstadt, wo Christoph immer so gerne seine Bücher kauft. Die sind doch auch immer ganz froh, wenn sie ein bisschen Unterstützung beim Auspacken und Sortieren bekommen. Was meinst du, Christoph?“
    Christoph fand die Idee ausgezeichnet, und so war es beschlossene Sache. Zumindest hatte ich jetzt für die nächsten Wochen ein Ziel, einen neuen Fixpunkt, um den
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