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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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daraus zu ziehen. Wäre das okay?“
    Ich nickte erleichtert. Kluge Ratschläge waren ohnehin das letzte, was ich jetzt hätte gebrauchen können. Ich war ihm dankbar und gleichzeitig fasziniert von seinem Einfühlungs-vermögen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich dafür revanchieren zu müssen. Also fragte ich einfach ins Blaue hinein: „Wie geht es eigentlich deiner Freundin?“
    Er sah mich irritiert an. Hatte ich etwas falsches gesagt? Rasch schob ich nach: „Die vom Abiball! Ihr seid doch noch zusammen?“ Wenn nicht, dann wäre mir das Thema jetzt sehr peinlich gewesen. Aber Christoph schien sich schon wieder gefangen zu haben. Abwehrend hob er die Hand:
    „Oh, nein, ehm, lass uns darüber ein anderes Mal reden. Für heute hatten wir, glaube ich, genug Gefühlsduselei. Lass uns schlafen gehen.“ Er stand auf.
    Gemeinsam gingen wir über die Terrasse durch das Wohnzimmer und die Küche zur Treppe, wobei er mir freundschaftlich den Arm um die Schultern legte und mich sacht an sich drückte. Ich ließ es mir gefallen, denn irgendwie tat es gut, nach dieser Achterbahnfahrt der Gefühle einfach einmal von jemandem festgehalten zu werden.

 
    III
    Wie Tante Melanie es geschafft hatte, wusste ich nicht, aber zwei Tage später hatte ich gleich zwei Jobs: dienstags und donnerstags half ich für jeweils drei Stunden in der Stadtteilbibliothek aus, montags, mittwochs und Freitag vormittags jobbte ich in einem großen Buchladen im Stadtzentrum.
    Für den Job in der Bibliothek gab es zwar kein Geld, doch dafür lernte ich eine Menge nützlicher Sachen: zum Beispiel, wie eine Bibliothek aufgebaut war, wie das Katalogisierungs-system funktionierte, und wie man Bücher mit einfachen Handgriffen halbwegs professionell reparierte. Die Bibliothekarin, mit der ich zusammenarbeitete, schien vom ersten Tag an einen Narren an mir gefressen zu haben. Glücklicherweise war sie keine dieser verstaubten, eingetrockneten Bürotratschen mit Dauerwelle und steifem Kragen, sondern total locker drauf und hatte immer einen lustigen Spruch auf Lager. Zudem hatte sie eine Menge Ahnung von Literatur, der Belletristik wie auch den klassischen Werken. Wenn gerade mal nicht viel zu tun war, griff ich mir einfach ein Buch aus einem der Regale und las ihr daraus irgendetwas vor. Dann diskutierten wir darüber, lachten, schimpften oder philosophierten – je nachdem, was für ein Buch und was für eine Stelle ich gerade erwischt hatte. Das machte mir unheimlich Spaß, besonders, weil ich mit dem umging, was ich am meisten liebte: Bücher und Sprache.
    Mit der Aushilfsarbeit im Buchladen besserte ich mein Taschengeld ein bisschen auf. Hier gab es keine tiefsinnigen Diskussionen, dafür harte Knochenarbeit: die Bücher-lieferungen waren auszupacken, in die Regale einzusortieren, den Kunden Bücherwünsche herauszusuchen, den einen oder anderen auch einmal zu beraten. Ich lernte dabei, mit den verschiedensten Menschentypen umzugehen: hektischen und unentschlossenen, ahnungslosen und überzeugten; solchen, die genau wussten, was sie wollten und es nur nicht fanden, und solchen, die alles mögliche fanden, aber nicht wussten, was sie eigentlich suchten. Abends war ich immer völlig fertig. Aber ich hatte ein gutes Gefühl bei der Sache, weil ich immer mehr spürte, was ich für mich selbst suchte, für meine eigene Zukunft. Aber würde ich auch den Weg dahin finden?
    Endlich war Freitag Abend, die erste Woche war geschafft. Ich saß im Wohnzimmer in Christophs Sessel und las in einem der Bücher, die ich mir aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Aus der Küche drang das Klappern und Klirren von Geschirr herüber. Ich war froh, dass die beiden da drüben noch eine Weile mit dem Abwasch beschäftigt waren. Das Buch war wirklich gut, aber eigentlich sollte ich es besser nicht hier unten lesen, lieber oben in meinem Bett. Plötzlich spürte ich jemanden hinter mir, und noch bevor ich irgendetwas tun konnte, hörte ich Christophs Stimme dicht an meinem Ohr:
    „Was liest du denn da schönes?“ Er beugte sich über meine Schulter und versuchte, mitzulesen. Ich schlug ihm das Buch vor der Nase zu: „Nichts besonderes.“
    Aber damit hatte ich seine Neugier erst recht geweckt. Sofort griff er zu und zog mir das Buch aus der Hand. Nein! Er sah auf den Einband und las: „Marguerite Duras, ‚Der Liebhaber’– aha! Das ist ja richtige Bettlektüre. Meinst du, dass du für so etwas schon alt genug bist?“ Seine Augen blitzten mich belustigt und provokativ
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