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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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mir um, noch immer in Geschäftsmannhaltung. Den Vater suchte ich darin allerdings vergebens. „Was gedenkst du, jetzt zu tun?“
    Ich wusste, dass er sich einen Abiturdurchschnitt mit einer Eins, mindestens aber einer Zwei vor dem Komma von mir erhofft hatte. Aber ich war mir gar nicht mehr so sicher, ob ich bis zum Abitur überhaupt noch durchhalten würde. Die Vier in Chemie und die Fünf in Mathe waren harte Brocken, über die ich selbst entsetzt gewesen war, auch wenn ich sie hatte heranrollen sehen wie Lawinen: unaufhaltsam, unaus-weichlich. Im Grunde hatten Zahlen für mich nicht in erster Linie einen Wert, sondern eine Form. Eine Vier ist eckig, kantig, bedrohlich. Wie die Spitzen einer Pinzette laufen ihre beiden vertikalen Linien aufeinander zu, bereit, mich zu zwicken und zu peinigen. Eine Fünf ist dickbauchig und behäbig. Im Zensurenspiegel ist sie dominant, unübersehbar, der dicke Querbalken über dem Flaschenbauch suggeriert die Endgültigkeit des eigenen Versagens. Wenn ich eine Zahl liebe, dann ist es die Zwei. Sie sieht aus wie ein Schwan, gleitet mühelos in einem Zug aus dem Stift, schön und stolz wie ebenjener Prinz der Vögel. Eine Zwei fand sich allerdings nicht in meinem Zeugnis, jedenfalls nicht in diesem Jahr. 
    Ich wusste, was mein Vater jetzt von mir hören wollte: dass ich an jedem Ferientag hart arbeiten und lernen würde, um den Stoff nachzuholen, in der Bibliothek sitzen und Formeln ausarbeiten und Integralrechnung üben würde. Aber das wollte ich ihm nicht sagen – nicht jetzt und nicht später. Weil es nicht der Wahrheit entsprach. Und zur Wahrheit war ich erzogen worden. Aber was war schon wahr? Oh Gott, bitte jetzt keine philosophischen Gedanken! Lieber schwieg ich.
    Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter, leise, aber fest: „Frank, das hat keinen Sinn. Der Junge braucht Ruhe. Lass ihm die Ferien, damit er sich ausruhen kann. Im nächsten Schuljahr wird es wieder besser werden. Er ist noch mal versetzt worden, und das hier ist nicht das Abschlusszeugnis. Es hat im Grunde nichts zu bedeuten.“
    Vater drehte sich langsam um und schaute Mutter an. Im Gegensatz zu ihm war sie eine kleine, zierliche Person, mit braunem, halblangem Haar, das sie meistens hochsteckte oder zu einem strengen Knoten zusammenband. Dazu trug sie stets eine schlichte Bluse und ein Kostüm in gedeckten Farben, was ihr zwar sehr gut stand, aber niemals aus dem Alltagsgrau, das uns alle umgab, herausstach. Selten hatte ich sie in einem Kleid gesehen, das luftig und verspielt um ihre doch recht schönen Beine streichen konnte. Und noch seltener hatte ich sie mit offenem Haar erlebt, aber ich wusste, dass es wunderschön voll war und sich in seidig weichen Wellen um ihre Schultern schmiegte. Warum bändigte sie es immer so zwanghaft?
    Während dieser kleinen Analyse meinerseits hielten die Augen  meiner Eltern eine lautlose Zwiesprache miteinander. Eine Art Machtkampf: Autorität und Pflichtgefühl gegen Verständnis und Rücksicht. Ich zuckte mit keiner Miene. Schließlich schienen sich Vaters Gesichtszüge, eben noch hart und wütend, langsam zu entspannen, als würde der warme Blick aus Mutters braunen Augen sie aufweichen. Ich gestattete mir ein kleines, unhörbares Aufatmen.
    „Also gut“, sagte Vater schließlich, „er bekommt seine Chance, sechzehn ist noch nicht achtzehn.“ Und zu mir gewandt: „Wir haben einen Deal, Partner. Sechs Wochen Ferien für dich, ein besseres Halbjahreszeugnis in der elften für mich. Klar?“
    Ich nickte stumm. Vater war Geschäftsmann, ein guter sogar. Mittlerweile führte er sein eigenes Unternehmen, klein, aber fein und sein. Und als Apotheker konnte er sich über mangelnde Umsätze nicht beklagen. Die Geschäfte liefen gut, warfen meistens einen ansehnlichen Gewinn ab, und zwar für ihn. Ich befürchtete allerdings, dass ich als sein Geschäftspartner mehr als nur den materiellen Verlust zu erleiden haben würde, wenn ich dieses hier vermasselte.
    Aber Mutter war noch nicht fertig. Sie wollte für ihren Sohn das Optimale herausholen: „Ich finde, er sollte nicht die ganze Zeit hier allein sein. Da kommt er nur unnötig ins Grübeln. Ich fände es gut, wenn er die Ferien mal woanders verbringt, wo doch wir beide auch kaum zu Hause sein werden.“
    Das stimmte: Vater würde auf eine einmonatige Geschäfts-reise gehen, Mutter als Betreuerin in ein Kinderferienlager. Das war so abgesprochen und mir auch recht gewesen. Bis vorgestern. Aber da hatte ich noch
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