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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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gewesen? Wieso hatten wir ihn dann nicht gesehen?
    „Aber als ich dich dort stehen sah, war ich völlig durcheinander: da war noch jemand in dein Leben getreten, ein junger Mann, und du küsstest ihn. Ich wusste nichts von Jann oder deiner Liebe zu ihm, deine Mutter hatte mir nichts davon gesagt, wohl, weil sie zunächst selbst nicht so richtig wusste, ob sie dem Ganzen trauen sollte. Mich irritierte diese Situation maßlos: da war plötzlich ein anderer Mann, der dir wichtig schien – wie tief eure Beziehung ging, davon hatte ich keine Ahnung. Und ich hatte keine Ahnung, ob ich dir denn jetzt noch wichtig war. Andererseits hatte ich Angst, dass du dein Studium abbrechen und versuchen würdest, mir zu folgen, wenn ich mich jetzt plötzlich wieder in dein Leben einmischte.
    Aber du hättest mich niemals gefunden, solange ich es nicht gewollt hätte, genauso, wie du mich auf dem Flughafen nicht gesehen hast, obwohl ich keine zehn Meter von dir entfernt war. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich dich noch wiedergefunden hätte, wenn du einmal abgesprungen wärst.“
    Die Erinnerungen an jene schreckliche Woche im Februar wurden in mir wach, in der Christoph in New York herumgeirrt war, und keiner von uns ihn mehr hatte erreichen können. Fast wäre aus der Woche ein Leben geworden. Mich fröstelte plötzlich, und ich konzentrierte mich rasch wieder auf Christians Stimme:
    „Womöglich hättest du dein Leben mit einer ewigen, sinnlosen Suche verbracht und am Ende dich selbst verloren. Davor hatte deine Mutter Angst, und ich auch. Aber es war zweieinhalb Jahre zu spät, dir das zu sagen. Nach Übersee konnte ich dir nicht folgen, und dort kannte ich auch niemanden, der ein Auge auf dich haben würde. Ich hatte einen schweren Fehler gemacht, und das tut mir sehr leid.
    Ich habe die sechs Monate genauso auf dich gewartet wie deine Mutter und Jann, und dann auch Celine, von der ich wusste, dass sie in Deutschland war, irgendwo im Norden bei Braunschweig. Dass sie dort ausgerechnet auf den Freund und Cousin meines Sohnes treffen und mit ihm zusammen nach München kommen sollte, musste wohl vom Schicksal gewollt sein. Ich jedenfalls erfuhr es erst auf dem Flughafen bei deiner Ankunft, genau wie du.“
    „Da warst du auch da?“ Christophs überraschter Ausruf ließ mich aufschrecken aus einer Vision, die mich plötzlich überkommen hatte: das Spiegelbild von vier Menschen in der Scheibe einer Glastür, hinter der zwei wehmütig funkelnde Kristallaugen zurückblieben. Also hatte mich mein Gefühl damals doch nicht getäuscht!
    Christian nickte: „Deine Mutter hatte mich umgehend informiert, dass du zurückkommst. Ich wollte dich sehen, und dieses Mal unbedingt die Kraft finden, wieder auf dich zuzukommen. Aber dann sah ich euch alle vier da stehen, und du hieltest die Menschen in deinen Armen, die du liebtest. Ich war mir nicht sicher, ob ich für dich auch noch dazugehörte. Und ob du mir die verschwiegene Schwester verzeihen würdest – von der deine Mutter ja schon gewusst und vermutet hatte, dass sie bei Jann war. Mir hatte sie das ebenfalls verschwiegen. – Tja, manchmal hat auch dein alter Herr ein bisschen zuviel Angst. Ich blieb also wieder im Hintergrund und dachte, dass du früher oder später zu mir kommen wirst, und dann wird das der richtige Augenblick sein. Und der ist jetzt, hier und heute.“
    Christoph ließ das alles eine Weile wortlos auf sich wirken, dann schüttelte er langsam den Kopf, ungläubig, wie im Traum: „Dann hatte ich in jenem Moment ja wirklich meine ganze Familie um mich herum versammelt. War tatsächlich unermesslich reich, auch wenn ich es nicht hundertprozentig wusste.“
    Celine lächelte mich an: „Eine Familie, die reich ist an Geheimnissen und Überraschungen. Und Jann war das fehlende Puzzleteil darin. Letztendlich war er es, der das ganze Bild zusammengefügt hat. Ohne ihn hätte alles keinen Sinn ergeben.“
    Christian zwinkerte seiner Tochter anerkennend zu und nickte. Seine Kristallaugen ruhten einen Moment lang auf mir, der Schein des Feuers spiegelte sich tausendfach wie in gläsernen Prismen in ihnen wider. Dann schaute er wieder zu Christoph und fuhr fort:
    „Von deiner Rückkehr an bis heute hatte ich eine Menge Zeit, um selbst zu einem Entschluss zu kommen: ob ich nun entweder mein eigenes Zelt abbrechen und für immer verschwinden, oder aber es öffnen und meine Familie darin aufnehmen wollte. Ich habe mich für letzteres entschieden. Ihr seid hier, und so
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