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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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sie also, eine kleine Familie, eben noch fremd und doch bereits völlig miteinander vertraut, gerade erst zusammengefunden und doch schon immer so fest miteinander verbunden, als wäre es nie anders gewesen.
    Schließlich löste Christian die Umarmung auf: „Ich muss jetzt zur Bühne. Wir sehen uns nachher. Celine ...“, er küsste sie auf die Stirn und ließ sie los, „Christoph ...“, er drückte leicht den Oberarm seines Sohnes und öffnete dann die Faust, um auch ihn loszulassen. Dann nickte er Jacques und mir zu: „Jacques, Jann ...“
    Ich fuhr erschrocken auf. Dass er Celines Freund kannte, war nicht verwunderlich, aber woher wusste er meinen Namen? Niemand hatte mich vorgestellt! Aber ich konnte ihn nicht mehr fragen, denn er war schon in die uns umgebende Menschenmenge eingetaucht, die zur Bühne strebte. Dort hatten sich bereits die Musiker versammelt, ihre Instrumente aufgenommen und gestimmt, die ersten Töne angeschlagen.
    Wenige Minuten später sahen wir ihn dort oben. Er spielte Geige, war sozusagen der Tongeber der Band. Wie verzaubert lauschte ich der Musik, beobachtete, mit welcher Sensibilität er mit seinem Instrument umging, ihm Töne und Stimmungen entlockte, von denen ich nicht einmal geahnt hatte, dass so etwas mit Holz und Nylonsaiten möglich war: Freude und Glückseligkeit, Wehmut und Sehnsucht, aufpeitschende Gereiztheit und sanfte Schwermut.
    Wir hatten uns mittlerweile ebenfalls nach vorne begeben, standen in einer der vorderen Reihen. Christoph schlug mit dem Fuß den Takt der Musik, während Celine sich rücklings Jacques’ Hände vor ihre Brust gezogen hatte und damit klatschte.
    Ein neues Lied. Plötzlich drehte Celine sich zu Christoph um: „Erkennst du es?“ Ihre Augen funkelten aufgeregt. Christoph lauschte aufmerksam, dann nickte er. „Kannst du dich noch an die Schritte erinnern?“
    Christoph wurde unsicher. Das kannte ich gar nicht von ihm! Wenn sich einer Tanzschritte merken konnte, dann doch wohl er! Sie ließ ihm keine Zeit zum Überlegen, sondern ergriff seine Hand, zog ihn nach vorne und geradewegs hinauf auf die Bühne. Ich hielt den Atem an und schaute erstaunt zu Jacques hinüber, der ebenso erstaunt zurückschaute. Was wurde das denn jetzt?!
    Ich sah wieder nach oben zur Bühne. Celine hielt noch immer Christophs Hand, machte die ersten Schritte, er folgte ihr. Sie schlangen ihre Arme rücklings umeinander, und dann begannen sie, richtig zu tanzen, eine fest vorgegebene, komplizierte Schrittfolge, die jedoch jeder von ihnen beiden sicher beherrschte, mit individuellen Variationen versehen, aber unverkennbar ein Tanz, der genau zu dieser Melodie zu gehören schien, und der sie miteinander verband. Die Menge unten klatschte begeistert. Sie glaubten wohl, das gehörte zum Programm, auch wenn die Bandmitglieder ziemlich verdutzt dreinschauten ob dieser unvorhergesehenen Showeinlage. Aber solange der Geiger spielte, begleiteten sie ihn.
    Christian trat neben die Geschwister, mit belustigt funkelnden Augen, in denen auch ein bisschen Stolz zu sehen war. Er folgte ihren Bewegungen, während er die Melodie ein ums andere Mal wiederholte. Jetzt konnte jeder im Publikum sehen, dass die drei zusammengehörten. Sie sahen es an der Art, wie sie sich bewegten, am Haar, ungebändigt, lang und golden, und natürlich an den Augen, drei Diamantenpaare silbern im Scheinwerferlicht funkelnd.
    Celines Wangen glühten, Christoph warf übermütig sein Haar in den Nacken und lachte mich an, während er sich dem Rhythmus hingab, der ihm von Geburt an im Blut gesteckt hatte, und ihr Vater trieb sie mit seiner Geige immer weiter, immer schneller, immer höher hinaus wie zwei Schmetterlinge, die sich taumelnd in das Sonnenlicht bohrten. Wie in Ekstase rauschten sie über die Bühne, die Menge wogte mit ihnen hin und her, und ich hatte schon längst jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren – da gab es plötzlich einen Schlussakkord, und der Tanz war mit einem Schlag vorbei. Das Publikum brach in tosenden Beifall aus, johlte und pfiff vor Begeisterung, während Celine und Christoph sich schwer atmend verbeugten und dann ganz schlicht und bescheiden von der Bühne kletterten. Christian stimmte ein neues Lied an.
    Ich war wie benommen von dieser Szene. Wir suchten uns erst einmal ein ruhigeres Plätzchen, und Jacques besorgte uns allen etwas zu trinken.
     Eine Weile standen wir schweigend beieinander, jeder sein kühles Getränk in der Hand, noch immer diese aufreizende Melodie im Ohr
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